Textatelier
BLOG vom: 10.07.2006

[1] Fussball-WM 06: Von der Nörgler-Nation keine Spur mehr

Autor: Heinz Scholz
 
Es herrschte tiefste Depression in einem Land dieser Welt. Die Bürger wurden mit vielen Steuern belastet, die Pendlerpauschale und der Sparerfreibetrag gekürzt und mit einer für die Patienten teuren Gesundheitsreform konfrontiert. Es gab eine hohe Arbeitslosenzahl, eine hohe Preispolitik und Nullrunden bei den Löhnen und Renten. Überall dominierten die Sprüche klopfenden Politiker und viele Miesepeter, also die ständig nörgelnden, mürrischen und unzufriedenen Bewohner. Viele entwickelten eine regelrechte Politikverdrossenheit und eine Zukunftsangst. Das Gespenst des Staatsbankrotts und der Verarmung ging um.
 
Kein Wunder, dass hier der Patriotismus keine Chance hatte, zumal den Leuten immer wieder die Vergangenheit unter die Nase gehalten wurde. Für Hitlers nationalistischen Grössenwahn müssen die Bewohner dieses Landes heute noch bezahlen (die Vergangenheit wird von bestimmten Kreisen immer noch am „Kochen gehalten“). Bei solchen Bedingungen und pessimistischer Einstellung verging den meisten das Feiern und das Lachen. Wer trotzdem lachte und dabei eine Deutschlandfahne schwenkte, wurde gleich als Nationalsozialist angesehen.
 
Die Menschen in anderen Ländern hielten diese armen unglücklichen Zeitgenossen für unfähig, richtig aus sich herauszugehen und zu feiern. Sie wurden als unfreundlich und kühl eingestuft.
 
Unschwer ist zu erkennen, welches Land damit gemeint war. Es ist Deutschland.
 
Und im Juni 2006 kam die grosse Wandlung eines Volkes. Es war nicht der deutsche Papst, der hier ein Wunder vollbrachte, sondern die Fussball-WM. Sie brachte eine ungeahnte Euphorie über das nörgelnde und unzufriedene Volk. Die Millionen Fans steigerten sich in einen regelrechten Rausch. Die Endorphine in den Gehirnen flossen in Strömen. Manch einer erkannte sein eigenes Land kaum wieder.
 
Die Deutschen sind „südlicher“ geworden
Die Gäste waren unglaublich verblüfft. Sie waren überrascht von der unerklärlichen Leichtigkeit, die aufgebrochene Lebenslust der Gastgeber. Ein WM-Beobachter meinte sogar, dass die Deutschen „südlicher“ geworden wären. „Gibt es ein grösseres Kompliment von einem Südländer?“, berichtete die „Badische Zeitung“. Ein Franzose wusste, warum der schwerfällige Deutsche abhob: „Im tiefsten Inneren wollt ihr so sein wie wir, leichtfüssige Lebenskünstler.“ Da hat er vollkommen Recht. Auch ich bewundere die Lebensart der Franzosen und Italiener. Ich hoffe, dass wir uns einen kleinen Teil dieser Lebensart für immer aneignen.
 
Die US-Amerikanerin Susan Mansell, jüdische Journalistin, hat ihre Wahlheimat noch nie so erlebt. „Der Patriotismus ist plötzlich sehr normal geworden. Bislang hatten die Neonazis dieses Thema besetzt. Jetzt sind überall Fahnen zu sehen. Deutschland hat da durch die WM eine sehr wichtige und positive Entwicklung gemacht.“ Ein grösseres Kompliment kann ein Volk nicht bekommen.
 
Auch die Engländer haben ihr Deutschlandbild geändert. Vor der Begegnung Deutschland–Italien hielten viele Engländer zum Gastgeberland. Im „Narrow Boat“, einem Pub am Grand Union Canal im Londoner Osten, meinte ein Kneipenbesucher: „Es ist nicht so, dass ich Deutschland mögen möchte, aber ich mag die theatralischen Italiener noch weniger.“
 
Die Pub-Besucher feuerten die Deutschen auch mit „Come on, Germans“ an. Und als die Italiener ein Tor schossen, wurden üble Flüche dem Schützen entgegengeschleudert.
 
Nörgler-Nation passé?
Der südafrikanische Kommunalpolitiker Ian Neilson betonte, dass aus der „Nörgler-Nation“ eine ganz andere wurde. Dies habe ihn fast umgeworfen. „Ich habe niemals zuvor so viel Freundlichkeit und Entgegenkommen erlebt“, sagte Neilson. Er wurde oft von Leuten auf der Strasse angesprochen. „Die Leute haben eine Wärme ausgestrahlt, wie ich sie von den Deutschen so nie erwartet hätte.“
 
Martin Dahms aus Madrid schreibt: „Eine seit Ende des 2. Weltkriegs unterdrückte peinliche Empfindung zeigt sich nun wieder: der Patriotismus. Dieses Schuldgefühl wegen der eigenen Geschichte scheint mit der Weltmeisterschaft endgültig beerdigt zu sein.“
 
Markus Guenther aus Washington betont, dass jetzt Deutschland wieder eine „normale Nation“ geworden sei. Deutschland habe sich mit einem „gesunden Selbstbewusstsein“ präsentiert und einen begeisterten Fussball gespielt.
 
Depression nach der Niederlage
Nach der unglücklichen 2:0-Niederlage gegen Italien – ein genialer italienischer Moment genügte, um die Deutschen in den Schlussminuten der Verlängerung zu besiegen (schöner als das Tor von Grosso war Pirlos genialer Pass vor dem 1:0) – herrschte tiefe Stille im Land. Überall depressive Menschen, die traurig mit gesenkten Köpfen durch die Strassen schlurften. Ein Bild des Jammers. Auch ich war etwas deprimiert. Da halfen keine Johanniskrauttabletten. Die Endorphine wurden aus unseren Gehirnwindungen geschleudert.
 
Mein Nachbar, der vielleicht 10 Fahnen auf dem Balkon befestigt hatte, entfernte diese noch in der Nacht. Die meisten Fahnen in Schopfheim wurden abgehängt und solche auch von den Autos entfernt. Man hätte meinen können, es herrsche Staatstrauer.
 
Ein Vater meinte, er sehe die Niederlage gegen die Italiener nicht so tragisch an, schliesslich seien die Deutschen nach den nicht so erfreulichen Spielen der letzten Jahre unglaublich weit durch ihre erfrischende Spielweise im Turnier gekommen. Er musste jedoch seinen 12-jährigen Sohn trösten, als dieser nach dem Aus einen Schreikrampf bekam. Ein anderer Junge aus dem Wohnort meiner Tochter, in Niedertegernau, meinte: „Zum Glück bin ich 1/8-Italiener.“
 
2 Tage später wurden die Endorphine wieder fleissig produziert. Man hoffte auf den 3. Platz im „kleinen Finale“ gegen Portugal. Zaghaft wurden wieder die Fahnen platziert. Auch bei meinem Nachbarn „erstrahlte“ sein Balkon wieder in alter Flaggenpracht.
 
Millionen versammelten sich dann vor dem Spiel in den Fanmeilen, um den Match auf riesigen Bildschirmen zu verfolgen. Nach dem Sieg gegen Portugal (3:1) kam nochmals eine Riesenstimmung auf. Die Nation hatte ihre Depression überwunden. Die Glücksgefühle kehrten wieder zurück.
 
Im Fernsehen sah ich etwas Besonderes: Viele Deutsche sangen die Nationalhymne (die sich vorher kaum einer getraut hat zu singen!), dann sah man viele türkische Fans (Mitbürger) mit den Deutschen feiern. Es war eine neue Form der Integration zu beobachten.
 
Viel Jubel und tragische Todesfälle
Auch die Fans in anderen Ländern hatten nach den Erfolgen und Misserfolgen mit euphorischen Ausbrüchen bzw. mit Depressionen zu tun. Als die Franzosen mit 1:0 gegen Portugal ins Endspiel kamen, waren nicht nur die Fans aus dem Häuschen (über ½ Million feierten auf dem Pariser Prachtboulevard Champs-Elysée), sondern auch ein Spieler. Der für den FC Bayern spielende französische Nationalspieler Willy Sagnol wickelte sich in eine Frankreich-Fahne ein und trocknete sich mit dieser die Freudentränen ab.
 
Die tragische Geschichte: Bei den Feiern in Frankreich gab es auch Krawalle, Prügeleien und mehrere schwere Unfälle. In Paris starben mindestens 3 Menschen. Ein 18-Jähriger starb nach dem Sturz von einem Metro-Waggon, eine 20-Jährige stürzte aus einem fahrenden Auto (sie hatte sich in ein Autofenster gesetzt) und eine Beifahrerin eines Motorradfahrers starb, als dieser die Kontrolle über sein Fahrzeug verlor und in eine Fussgängergruppe raste. 4 Menschen aus dieser Gruppe verletzten sich dabei schwer. In Lyon sprangen 7 endorphingeschwängerte Männer in die Saone. Einer davon tauchte nicht wieder auf.
 
Da sieht man wieder einmal, dass bei euphorischen Gefühlen auch Überreaktionen vorkommen können. Aber vielleicht spielte bei diesen tragischen Vorfällen der Alkohol eine wesentliche Rolle.
 
Italien ist Weltmeister
Nach dem grossartigen, umjubelten Spiel um den 3. Platz (das beste Spiel im „kleinen Finale“ der WM-Geschichte) war das Finale nicht mehr zu toppen.
 
Italien, das sei hier noch vermerkt, wurde verdient gegen Frankreich nach dem Elfmeterschiessen (5:3) Weltmeister. Italien war das effizienteste und am besten organisierte Team. Die Franzosen schwächten sich selber. Nach einem hässlichen Kopfstoss gegen die Brust des Italieners Marco Materazzi wurde Zinedine Zidane vom Feld verwiesen. Es war wohl der schwärzeste Moment in seiner grandiosen Laufbahn.
 
Giorgio Napolitano, italienischer Staatspräsident, bemerkte zum Titelgewinn Folgendes: „Wir haben den Fussball gesehen, den wir uns immer zu sehen wünschen. Ich bin vor Freude in mich hinein gesprungen.“
 
Und was sagte Jacques Chirac, der französische Staatspräsident, der auch beim Endspiel anwesend war? Hier seine Bemerkung: „Die Mannschaft war bis hierher bewundernswert, die Niederlage war nur ein Zufall. Die Spieler können stolz auf das sein, was sie geleistet haben.“
 
Fazit und Ausblick
Eine Fussball-WM euphorisiert die Massen und lenkt hervorragend ab von den Problemen unserer Zeit, wie Arbeitslosigkeit, ungewisser Zukunft, hohe Steuerabgaben, negativen Auswirkungen der Globalisierung und der Kriegsfolgen in Afghanistan und im Irak.
 
Es ist wirklich so, dass der Kult um den Ball mindestens so gross ist wie einst der um das Goldene Kalb. Fussball hat jedoch noch eine ganz andere Wirkung. Das erkannten schon die alten Römer mit ihren Gladiatorenkämpfen und anderen makabren Spielen. Die damalige Devise lautete: „Gib dem Volk ‚Brot und Spiele’, und es wird zufrieden sein.“
 
Für die deutschen Fans war Folgendes besonders erfreulich: Die Kicker haben dank Jürgen Klinsmann wieder ihre Spielfreude entdeckt und konnten sich wieder in der Weltspitze etablieren. Der Bundestrainer räumte auch mit den verkrusteten Strukturen im Verband auf, und setzte viele jüngere Spieler ein.
 
Wir hoffen alle, dass die Glücksgefühle, das neue „gesunde“ Selbstbewusstsein und die Freundlichkeit gegenüber Ausländern nach dem WM-Motto „Die Welt zu Gast bei Freunden“ länger anhalten werden. Dies wären positive Nebeneffekte dieser Weltmeisterschaft.
 
Zum Schluss noch einige Zitate, die zum Thema passen:
 
„Der Papst ist deutsch, der Gott aber ist italienisch.“
(Italienischer Journalist nach dem Sieg gegen Deutschland)
 
„Das Wetter ist so schön, weil Beckenbauer die WM organisiert hat. Was er anpackt, das gelingt. Ich rechne ab Montag (also nach Beendigung der WM) mit Hitzegewittern und Hagel.“
(Hansi Müller, Ex-Nationalspieler)
 
„Ich habe niemanden aufbauen können, ich brauchte selbst Trost.“
(Gerald Asamoah, Auswechselspieler und Spassmacher des Teams nach der Niederlage gegen Italien.)
 
„Was wollt ihr mit dem 1. Platz? Den grössten Preis habt ihr längst gewonnen. Den Stolz einer ganzen Nation.“
(Transparent im Daimler-Stadion in Stuttgart)
 
Im 2. Teil berichte ich über kuriose Begebenheiten bei der Fussball-WM 2006.
 
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