Textatelier
BLOG vom: 02.07.2006

Sommerabende bei Nachtkerzen oder unter Fussballfans

Autorin: Rita Lorenzetti, Zürich
 
Die Sommerabende in unserem Reihenhausviertel an der Hardturmstrasse in Zürich sind manchmal leise und nur dem versinkenden Tag gewidmet. Sobald die Kinder ins Haus gerufen werden und die Sonne untergeht, ist die Stille da. In den bekannten Abständen fährt noch das Tram vorbei. Der Autoverkehr hält sich in Grenzen. Wer die Rabatten noch nicht bewässert hat, macht das jetzt. Wir grüssen uns über die Zäune hinweg und tauschen Neuigkeiten aus.
 
Dann gehen die Nachtkerzen auf. Wir sitzen zu ihnen und schauen, wie sie sich öffnen. Von Juni bis September können wir jeden Abend – immer bei Sonnenuntergang − miterleben, wie sie ihre Knospen aufmachen und die Blätter in der Art eines Regenschirmes ausfalten. Noch bevor es dunkel ist, haben sie ihre Antennen zum Universum hin eingerichtet und sind im Austausch mit ihm. In dieser hingebenden Haltung werden wir sie auch am andern Morgen noch finden.
 
Sobald die Sonne verschwunden ist, fällt ein kühler Luftzug über uns her und weht die Düfte der Nachtkerzen über unsere Wege. Sofort sind Nachtfalter da und verkriechen sich ins Innere der Blumen. Dann treten die Sterne auf. Der Himmel trägt nun Nachtblau und die Bäume werden zu schwarzen Schimären. Spinnen haben ihre Netze gesponnen und warten auf ihre Beute.
 
Während der Fussball-Weltmeisterschaft aber ist alles anders. Ist ein wichtiger Match angesagt, ändert sich das Szenario um 180 Grad. Pablo, der Schweizer mit spanischen Wurzeln, stellt dann sein Umfeld für die Übertragung eines Spiels zur Verfügung. Das Fernsehen ist eingerichtet und gegen ein allfälliges Gewitter sind Blachen als schützendes Dach aufgespannt. Aus den verschiedensten Höfen erscheinen Männer und Frauen und folgen der Einladung. Viele schätzen hier das unkomplizierte Zusammensein. Hier können auch Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern ein Spiel mitverfolgen.
 
Ob dabei, im eigenen Garten oder zu später Abendstunde schon im Bett, immer ist aus den wogenden Stimmen zu erfahren, wie es um das Spiel steht. Wie Meereswellen brandet der Jubel oder die abgrundtiefe Enttäuschung unseren Häuserfassaden entlang.
 
Für die Kinder und Jugendlichen unserer Siedlung ist das wunderbar. Ich beobachtete an einem der ersten Abende, als sogar ich dabei war, wie aufmerksam sie den Spielen folgten. Einige von ihnen und auch junge Frauen, zelebrierten beinahe magische Rituale. Sie meinten, ihrer Lieblingsmannschaft den Sieg herbeizaubern zu können. Spannung erleben, ist offenbar ein Grundbedürfnis. Auch die Kriminalromane leben davon.
 
Ich verstehe wenig von Fussball. Aber ich nehme die Begeisterung wahr. Ich sehe, wie der Sport Menschen zusammenführt und wie solche Turniere ein Zusammengehörigkeitsgefühl auslösen können. Da unsere Kultur am Abbröckeln ist, bestehen Bedürfnisse nach neuen Formen von Gemeinschaftserlebnissen. Man findet sich zusammen, wie wir Bernoullianer bei Pablo. Wir gehörten für einen Abend zusammen und gingen nachher wieder unsere individuellen Wege. Aber für 2, 3 Stunden verband die Teilhabe an den Emotionen alle, die dabei waren.
 
Weder für Primo noch für mich ist Fussball ein Thema, obwohl wir das GC-Stadion als Nachbar haben. Trotzdem reagierte er auf meine Aussage, dieser Sport sei doch extrem grob und nicht immer fair, ganz realistisch und humoristisch. „Das ist Kampf. Hier geht es ums Ganze, um viel Geld, und Du kannst zum Verteidiger nicht sagen ‚Bitte gehen Sie doch etwas zur Seite, ich möchte ein Tor schiessen.’“
 
Und nicht vergessen haben wir beide einen Ausspruch einer Hausangestellten, die uns erzählte, sie besuche jeden Match des FC Frankfurt. Wir fragten, ob ihr Freund Fussballer sei. „Oh nein!“ Was denn die Faszination ausmache? „Wissen Sie, da kann ich schreien.“
 
Dieses Schreien ist offensichtlich ein Urbedürfnis. Eine Art (Urschrei-)Therapie, die das Ungereimte und Quälende in der eigenen Seele wieder zurechtrücken kann. Und nur eine Facette im Wettbewerb um Tore und Sieg.
 
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