Textatelier
BLOG vom: 25.03.2008

Biberstein AG: Das unbändige Freiheits- und Glücksstreben

Autor: Walter Hess, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Kleinstädte sind gefrässig, verspüren Wachstumsgelüste. Denn „Wachstum“ lautet das Zauberwort, welches das Denken in Wirtschaft und Politik beherrscht, mengenmässiges Wachstum, welches das ansteckende, die Fusionitis, auslösende Virus hervorgebracht hat. Es setzt sich in den Gehirnen fest, führt zu zentral regierten Ländergemeinschaften nach EU-Muster, zu immer grösseren Industriekonglomeraten und leistet der Verstädterung Vorschub. Der Wunsch nach zentraler Machtausübung und Lenkung bei Ausschaltung der Gemeinwohlorientiertheit innerhalb kleiner Einheiten wird in der Regel mit „Rationalisierung“ und „Kosteneinsparung“ begründet. Und wenn dann wieder einmal ein Koloss zusammenbricht, weil Regulationsmechanismen ausgeschaltet sind, ist die Katastrophe da. Die Ökologie lehrt, dass Regulationen nur innerhalb vielfältiger Strukturen stattfinden können.
 
Der kluge Mann, die kluge Frau und die kluge Gemeinde bauen da vor. Zu den klugen Gemeinden gehört Biberstein AG. Das ehemalige Reb- und Arbeiterdorf, in dem man sich das eine oder andere Stück Vieh zur Verbesserung der Ernährungslage hielt und zu Fuss nach Aarau oder Schönenwerd SO pilgerte, ist nur etwa 5 km von der Aargauer Kantonshauptstadt Aarau entfernt, wo die Fusions-begeisterte Aargauer Kantonsregierung residiert, eine eigentliche Virenschleuder. Selbstredend wurde davon auch die Stadt Aarau infiziert. Doch die Stadtgemeinde benimmt sich nicht etwa aufdringlich, sondern nimmt bloss mit offenen Armen auf, was sich in diese wirft, so etwa die weniger bemittelte Nachbargemeinde Rohr. Aus historischen Gründen hat Biberstein ein etwas distanzierteres Verhältnis zu Aarau, weil die Grafen von Habsburg-Laufenburg Biberstein mit dem Ziel gründeten, auf der anderen Aareseite ein Gegengewicht zum kyburgischen Aarau zu schaffen.
 
Biberstein hat sich am Jurasüdfuss festgekrallt, geniesst die sonnige Lage, berauscht sich am oft durch Nebel verklärten Blick ins Aaretal mit den wieder aufkeimenden Auen-Nassstandorten sowie am eigenen Wein und ist froh, in Ruhe gelassen zu werden. Im Gebiet Ghäld (Gheld), oberhalb von Schulanlage, Post und dem gemeindeeigenen Rebberg sind in den letzten Jahren breite, betont horizontal gegliederte, verdichtete Beton-Glas-Bänder von terrassenartig angelegten, geschachtelten Wohnkuben entstanden, im Trottenacker sind verschiedenfarbige Einfamilienhäuser mit Sattel- und Krüppelwalmdächern aufgereiht. Die Wohnlagen sind begehrt. Von ihnen aus sieht man bis zu den geometrisch weniger klar geformten Schneebergen des Alpenmassivs, ein unregelmässiges, durchfurchtes Zickzack, in dem kein geometrisches Grundmuster zu erkennen ist. Und in Biberstein sind selbst die finanziellen Aussichten gut. Das Frühlingsblühen, das sich in den gestaffelten Hausvorgärten im Dorfzentrum jeweils besonders früh manifestiert, findet ganzjährig auch in der Gemeindekasse statt.
 
Wie immer, wenn es einem Land oder einer Gemeinde gut geht, bestehen keine Anlehnungsbedürfnisse an einen Partner, besonders wenn dieser nicht besonders wohlhabend ist, sondern eher schwächlich, anlehnungs- und unterstützungsbedürftig ist. So hielt es die Schweiz mit der armen EU (man will ja keine Freiheitsrechte abgeben und dafür noch bezahlen müssen). Die EU versucht, ihre desolaten Zustände durch ein arrogantes Gehaben zu überdecken. Und so hat denn die Globalisierungsmanie die Gemeinde Biberstein kalt gelassen.
 
Die an den Ortseingängen aufgestellten Tafeln mit dem goldenen Sternenkranz auf blauem Hintergrund, die Biberstein als „Gemeinde Europas“ kennzeichnen, könnte und sollte man sehr guten Gewissens endlich wieder demontieren. Die 12 goldenen Sterne symbolisieren die EU – die Zahl 12 hat nichts mit der Zahl der Mitgliedsstaaten zu tun, sondern sie symbolisiert Vollkommenheit und Einheit. Die Sache mit der Vollkommenheit ist wohl etwas hoch gegriffen … Die EU-Begeisterung ist nach all den Übergriffen auf unsere schweizerischen Freiheitsrechte auf einen Tiefstpunkt abgesackt. Als Einwohner von Biberstein möchte man nicht bei jeder Heimkehr an die Unterjochungsbemühungen aus Brüssel erinnert werden, denn dies versetzt dem aufkeimenden Höhenflug des Lustprinzips, das sich bei solchen Rückfahrten nach Biberstein einstellt, einen Tiefschlag. Man sollte ja nicht vergessen, dass die EU (wie auch die Nato) zu einem verlängerten US-Arm geworden ist; für enge transatlantische (über den grossen Teich reichende) Beziehungen ist die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel tätig, auf dass die Vereinheitlichung global werde.
 
Bibersteiner Prioritäten
Der Bibersteiner Gemeinderat hat sein Unabhängigkeitbestreben soeben in einesm Leitbild-Entwurf festgeschrieben, in dem die von Peter Frei präsidierte Gemeindebehörde die kommunalen „Ziele, Aufgaben und Prioritäten“ kurz darstellt. Bereits in der Einleitung wird die Sache auf den Punkt gebracht: „Kernaussage der nachstehenden Gedanken ist, dass Biberstein seine Eigenständigkeit und Identität als attraktive Wohngemeinde am Jurasüdfuss wahren will, ohne die Anbindung an das nahe Zentrum Aarau zu vernachlässigen.“ Was diese „Anbindung“ bedeutet, wird im weiteren Verlauf des Leitbilds allerdings nicht mehr verdeutlichend ausgeführt. Wahrscheinlich sind damit die Jurawald-Bewirtschaftung durch das Forstamt Aarau und die Zusammenarbeit auf polizeilicher Ebene mit Aarau gemeint, die beide bereits tadellos funktionieren, und auch die Zusammenarbeit mit auswärtigen schulischen Oberstufenstandorten, wobei Biberstein selbstverständlich auch als Schulstandort selbstständig bleiben will.
 
Das Verb „anbinden“ hat verschiedene Bedeutungen: etwas mit einer Schnur festmachen oder mit jemandem ein nicht ganz ernst gemeintes Liebesverhältnis beginnen – also anbändeln. Auch für den Beginn des Streitens mit jemandem ist derselbe Ausdruck zuständig. Verkehrsmässig würde „anbinden“ bedeuten, dass gute Verbindungen (durch Strassen und öffentliche Verkehrsmittel wie den Aar-Bus) erwünscht sind. Dazu würde ein sprachlich verunsicherter Bürger wie unsereiner gern erfahren, was es mit der Freiheit Angebundener im Weiteren auf sich hat.
 
Im Leitbild klingt auch die Wertschätzung des traditionellen Dorfkerns an: „Mit einer gezielten und massvollen Entwicklung erhalten und stärken wir unser Ortsbild“, liest man im etwas verwedelnden Politjargon, wobei dann aber immerhin ausgedeutscht wird, was das konkret bedeuten könnte: „Dabei bilden der untere und wieder geschaffene obere Dorfplatz zusammen mit dem Schloss einen traditionellen Ortskern. Bauliche Entwicklungen, die sich einpassen, sind möglich.“ Da bricht also bei aller Offenheit für Zukünftiges ein lobenswertes Traditionsbewusstsein durch; denn das aufsteigende Dorf am Hang mit seiner mittelalterlichen Stadtstruktur im Kleinformat, das nicht zur Stadt verkommen ist, hat wirklich einen erhaltenswerten Charme.
 
Biberstein besitzt keine Kirche im und keine Industrieanlagen vor dem Dorf, wie es dem Jura entlang sonst üblich geworden ist. Das Schloss ist das Wahrzeichen, und das Kirchengeläut beziehen wir aus Rohr AG auf der anderen Aareseite oder vom Kirchberg (auf Küttiger Boden), wo der Bibersteiner Seelenservice bei Bedarf wahrgenommen werden kann; dazu gehört auch der von einer Betonmauer umrandete Friedhof, wo man ungestört seinen letzten Schlaf geniessen kann.
 
Aber geben wir dem quicklebendigen Gemeinderat das Wort, der das Leitbild im Kollektiv zusammen mit Gemeindeschreiber Stephan Kopp kollektiv unterzeichnet hat: „Primär ist Biberstein eine Wohngemeinde und kein Industrie- und Gewerbedorf. Aktives Kleingewerbe, welches sich mit der Wohnzone verträgt, ist willkommen. Im Rahmen unserer Möglichkeiten setzen wir uns für eine ausgewogene Durchmischung des Wohnungsangebots ein.“ Und diese Möglichkeiten sind so bescheiden auch wieder nicht, zumal der Gemeindeammann Frei selber aktiver Architekt ist. Weitere Gemeinderäte sind Markus Siegrist (Vizeammann), René Bircher, Martin Hächler und Rolf Meyer.
 
Anschliessend stimmen die Leitbildner ein durchaus berechtigtes Loblied auf die Lage an: „Die überaus reizvollen Landschaften an den Jurasüdhängen und der Aareraum sind wertvolle Naherholungsgebiete. Wir unterstützen aktiven Natur- und Landschaftsschutz. Dazu gehören auch Projekte wie die Waldweide im Schachen, der nahe Auenschutzpark oder das Naturschutzgebiet Chalenmösli. Land-, Forstwirtschaft und Weinbau sehen wir als Wirtschaftszweige, die unter Berücksichtigung ökologischer Aspekte einen wertvollen Beitrag für die Erhaltung unserer vielfältigen Landschaften leisten. Stolz sind wir auf den gemeindeeigenen Rebberg.“
 
Der Gemeinderat predigt aber nicht nur Wein, sondern er weiss auch um die Bedeutung des Wassers, des Trinkwassers, das nicht einfach Grundwasser, zum Teil aus Kölliken ins Aaretal geflossen, ist, sondern in Biberstein trinken wir selbstverständlich reines, frisches Quellwasser, das leider einfältigerweise auf Geheiss der kantonal-aargauischen Instanzen wertvermindernd ständig bestrahlt wird, obschon dafür nicht der geringste Anlass besteht. Es ist, als ob man einen frisch ab Baum geernteten Bioapfel vor dem Genuss noch 2 Tage an ein eingeschaltetes Handy anbinden würde, um ihn mit dem nötigen Elektrosmog zu versehen. Die Bestrahlungstradition sollte nach all den Bibersteiner Quellschutzmassnahmen unbedingt aufgehoben werden, da sie ein zerstörerischer Eingriff ins Klustergefüge des lebendigen Wassers ist.
 
Aber mit dieser dringlichen Bitte im Interesse des Gesamtwohls schiesse ich übers Leitbild hinaus. Dieses gibt sich wassermässig spartanischer: „Wir legen Wert auf eine hohe Versorgungssicherheit. Die sorgfältige Pflege der gemeindeeigenen Infrastruktur ist unsere Visitenkarte. Angefangen beim Trinkwasser aus eigener Quelle, zu den zahlreichen Fusswegverbindungen und sorgfältig gestalteten Strassenräumen bis hin zu den familienfreundlichen Feuerstellen. Wir verfügen über eine schnelle Anbindung an die Autobahn A1. Wir setzen uns für eine gute Erschliessung mit dem öffentlichen Verkehr ein, den wir mit einem Umweltschutzbeitrag unterstützen.“
 
Natürlich möchte auch die Verwaltung eigenständig bleiben, und deshalb wird sie als „aktiv, effizient und kundenorientiert“ bezeichnet, was ich bestätigen kann. Die Zusammenarbeit ist angenehm, korrekt, jenseits aller Pingeligkeit. Zur Verwaltungsphilosophie heisst es in der Leitbildsprache: „Service public ist kein Fremdwort.“ Wirklich? Der Begriff „Service“ kommt entweder aus dem Lateinischen, Französischen oder Englischen und bedeutet „Bedienung“ oder „Kundenbetreuung“, und das „public“ braucht man jetzt in der Sprache, in der die globale Internationale gesungen wird, für das deutsche „öffentlich“. Es geht also um öffentliche Dienstleistungen. Ich habe schon verstanden, dass die Sache mit der „Fremdsprache“ im übertragenen Sinn gemeint war. Die Gemeindeoberen wollten sagen, die Verwaltung sei für die Bevölkerung da, dieser zu Diensten oder aber man wisse im Gemeindehaus mit dem gemütvollen Dachreiter um seine Pflichten und Schuldigkeiten der Bevölkerung gegenüber. Fremdsprache hin oder her: Wichtig ist bloss, was dabei herauskommt.
 
Glücksökonomie
Die, wie gesagt, von den Grafen von Habsburg-Laufenburg gegründete ehemalige stolze Burgstadt Biberstein bäumt sich tatsächlich gegen die von der kantonal-aargauischen Regierung geförderte Reduktion der Gemeindeautonomie auf, wie sich aus dem erwähnten Leitbild ergibt. Das ist ein aktiver Beitrag zum Glücklichsein – denn ausgedehnte Möglichkeiten zur Mitbestimmung machen die Menschen zufrieden, besonders wenn sie u. a. dank eines niedrigen Steuerfusses über genügend Geld verfügen … Ein gutes Leitbild wird die politische Glücksökonomie also unbedingt fördern.
 
Die Politik kann die Menschen zwar nicht zum Glück zwingen, aber durch nahe Mitbestimmungsmöglichkeiten die Grundlagen dazu verbessern, wie der Ökonom und Glücksforscher Bruno Frey von der Universität Zürich in einem Interview mit Radio DRS Anfang 2008 sagte. Wörtlich, mit Bezug auf die Schweizer Verhältnisse: „Wir finden, dass die direkte Demokratie nicht nur leistungsfähiger ist, sondern die Leute auch zufriedener macht als in anderen Ländern.“ Das Entscheidende sei, dass die Bürger in diesem Fall eine institutionalisierte, eine zivile Möglichkeit haben, sich am politischen Prozess zu beteiligen, wenn es für sie wichtig ist. Die Gemeindefusionen arbeiten dem entgegen, wie ich beifügen möchte, sie machen traurig.
 
Und ich habe nun auf diesem Weg (der Vernehmlassung) meine Beteiligung am lokalpolitischen Geschehen wahrgenommen. Sollten sich bei mir Augenblicke einstellen, in denen ich nicht vollkommen glücklich bin, hätte ich dies mir selber zuzuschreiben, oder aber aus dem Leitbild wäre ein Leidbild geworden. Zum Beispiel wenn die Europatafeln an der Ortsperipherie – jene an der Auensteinerstrasse hat neben Kratzspuren eine auffallende Schlagseite nach links – nicht nur eine Phase der Verwirrung, sondern der tatsächlich vorherrschenden Zustände spiegeln würden.
 
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