Textatelier
BLOG vom: 09.05.2008

Leben, sammeln, anhäufen und eines Tages aufräumen

Autorin: Rita Lorenzetti, Zürich
 
Es ist gar nicht so einfach, von einem Umzug zu berichten, wenn er vorbei ist. Sich erinnern, wie alles gelaufen ist, ist im ersten Augenblick nicht möglich. Ja, wir atmeten auf, fühlten aber noch keine Last von uns abfallen. Während der vergangenen Wochen konnten wir oft die Sätze nicht vollenden, wenn wir einander etwas erzählten. Es drang immer etwas Neues das eben gerade Gedachte zur Seite. Oft lachten wir nur noch, wenn wir die Worte nicht mehr fanden.
 
Wir pendelten vom alten Ort an den neuen, verabschiedeten uns beim Räumen und bauten auf beim Einräumen der Dinge, die wir in verschiedenen kleinen Etappen in die neue Wohnung trugen.
 
Wir gingen nach Primos Vorschlag so vor: Alle Ideen sollen ausgesprochen werden, ohne diese aber sofort zu bewerten, anzunehmen oder abzulehnen. Sie standen einfach auf Abruf in unseren Gedankenräumen. Auf einmal wussten wir, welche von ihnen die tauglichste sei.
 
Räumen aber wurde zum Marathon. Manchmal kam ich mir vor wie jemand, der einen ganzen Wald abgeholzt hatte, um Zeitschriften, Bücher, Briefe und Kartenpapiere herzustellen. Und dann all die Papiere aus der Administration der Werkstatt, die 10 Jahre aufbewahrt werden müssen. Ein Riesengewicht. Ich begriff plötzlich die Wohltat im Wort „entsorgen“, als ich meine Schätze abtransportieren lassen konnte. Einige rare Druckerzeugnisse übernahmen Freunde, andere gingen in Brockenhäuser und vieles auch in die Müllcontainer. Bücher sind gar nicht an vielen Orten willkommen. Aber unsere alte Schreibmaschine, etwa 100 Jahre alt, wurde als echter Schatz bewertet und gerne mitgenommen. Primo trennte sich auch von einer Plakat-grossen Intarsie, eine seiner verrücktesten Arbeiten. Mit verschiedensten farbigen Hölzern komponierte er ein Gesicht zwischen Zeichen und Dekorationen ungewöhnlicher und sehr farbiger Art. Auch diese war dem Chauffeur eines Brockenhauses hoch willkommen. Ich hoffe, dass ich ihr irgendwo wieder begegne. Es würde mich nicht verwundern, wenn sie plötzlich in einem öffentlichen Raum oder als Dekoration innerhalb einer Reklame stünde. Das wäre ein Spass für uns, mit ihr wieder zusammenzutreffen. Wir haben vieles losgelassen, aber natürlich nicht alles. Als ich jeweils die Umzugs-Kartons öffnete, staunte ich, was ich da vorfand. Ich dachte mehrmals: Ja, habe ich dies denn nicht alles fortgeworfen?
 
Wegen der Labilität meines Rückens entwickelte sich ein hochsensibles Gefühl für Gewicht. Alle Umzugs-Kartons wurden nicht nur rational gefüllt. Immer mit Gefühl. Bücher oder Geschirr ergänzte ich mit leichten Kleidungsstücken, um die Lastenträger nicht zu überfordern.
 
Waren 6‒8 Kartons gefüllt, wurden sie an den neuen Ort gefahren. Dort konnte der Inhalt in bereits vorhandene Schränke abgefüllt werden. So entstand nach und nach das Fundament am neuen Ort. Waren die Kartons leer, falteten wir sie zusammen. Primo band sie an den Rücken, und mit den Velos fuhren wir zurück, um sie neu zu füllen. Wenn ich hinter ihm her fuhr, konnte ich die Reklame auf dem Wellkarton lesen. „Möbeltransporte“ war da vermerkt. Primo als Möbelschreiner mit Möbelkartons auf dem Rücken. Bei Wind und Wetter fanden diese Fahrten statt. Der Weg beanspruchte 20 Minuten. Wir mussten 2 × eine Unterführung benützen, eine unter der Autobahn, die andere unter den Bahngeleisen. Diese Fahrten und die dazugehörige Anstrengung wirkten auf mich als gutes Rückentraining. Fast nicht zu glauben: Ich habe mich in den letzten Wochen dank grosser Anstrengungen im Rücken erholt.
 
Ich habe früher auch schon von meiner Kartensammlung gesprochen. Seit 45 Jahren sammelte ich alle Glückwunschkarten, die uns für Weihnachten oder Neujahr zugekommen waren. Ursprünglich diente eine alte Wäschetruhe für die Aufbewahrung, eines Tages kam eine zweite dazu, und auch sie genügte bald nicht mehr. So standen auch einzelne Schachteln auf der Winde. Als Primo diese in den 1. Stock heruntertrug und sie an einer Wand aufschichtete, wurde mir beinahe übel. So viel Material! Wie soll ich dies alles nochmals sichten? Ich hatte vordem Informationen eingeholt, an welches Museum ich damit gelangen könnte. Das Mass war übervoll. Ich sah die Lasten, die Transportkosten und vielleicht die Absage, damit könne man nichts anfangen. Und darum beschloss ich, innerlich unerschütterlich sicher, diesem vor allem für mich emotionalen Wert adieu zu sagen. 3 Jahrgänge flogen sofort in einen 60 Liter-Abfallsack, obwohl ich sofort wieder sah, wie viele Kunstwerke da vorhanden waren. Da kamen dann doch noch Zweifel auf und ich beschloss, aus jeder Schachtel eines Jahrgangs, die 10 schönsten (die meiner Ansicht nach schönsten) Karten zu retten. Aber das war Unsinn, unmöglich.
 
Mit dieser Sammlung hoffte ich, eines Tages aufzeigen zu können, wie Kultur ganz unten in den Familien und jenseits von akademischem Kunstverständnis über Jahrzehnte gepflegt worden ist. Schon als Kind im ersten Primarschulalter war ich fasziniert von diesen Kunstwerken und den Ideen, wie Glück gewünscht worden ist.
 
Nun war also der Abschied gekommen. Anders, als ich es je dachte. Damit ich die Karten in die Papiersammlung geben konnte, schob ich jeden Jahrgang in halboffene Zeitungen und verschloss diese mit ebensolchen zu Paketen. Ein würdiger Abschied, dünkte es mich. Nochmals konnte ich mich an vielen Bildern und Sujets oder auch an guten Worten, wenn auch nur flüchtig, freuen.
 
Und dann wollte meine Schwester Renate plötzlich wissen, was ich mit der Kartensammlung mache. Fortwerfen. Entsorgen. Ihr Interesse erwachte. Am Schluss des Gesprächs entschloss sie sich, die Sammlung an sich zu nehmen. Sie möchte sie kennen lernen. Sie bestellte ein Taxi, fuhr zu uns, packte alle Pakete in mitgebrachte, grosse Taschen und fuhr sie zu sich heim. Sie sind gerettet. Renate arbeitet in einem Gemeinschaftszentrum und hat Kontakte zu Museums-Leuten. Sie nimmt sich jetzt der Sache an.
 
Das waren sehr emotionale Momente. Es schien mir, die Karten, die ich immer in Ehren gehalten hatte, hätten sich gegen die Kremation gewehrt, den Aufstand geplant und jemanden mobilisiert, der sie retten konnte. Ihre Geschichte ist also noch lebendig und nicht fertig geschrieben.
 
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