Textatelier
BLOG vom: 01.07.2008

EM-2008-Rückblick: Falsche Flaggen, Bildausfall, Schüsse

Autor: Heinz Scholz, Wissenschaftspublizist, Schopfheim D
 
„Alle Ideen können sowohl gewinnen als auch verlieren, denn der Fussball gehört weiterhin eher den Füssen der Spieler als den Köpfen der Trainer.“
(Jorge Valdano, argentinischer Weltmeister und Schriftsteller)
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„Wir haben auf brillante Weise das Turnier gewonnen, und ich bin mir sicher, dass Spanien ein Modell für den Fussball werden kann.“
(Luis Aragonés, spanischer Nationaltrainer)
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„Ohne Chance gegen die rote Furie“ oder „Spanier jubeln, Deutsche weinen“: Das waren 2 Schlagzeilen der Online-Ausgabe von „stern“ (www.stern.de). Und was schrieb mein Heimatblatt, die „Badische Zeitung“ am 30.06.2008? Sie titelte ganz richtig: „Spanier entzaubern die deutsche Elf“.
 
Die Spanier, das muss man neidlos anerkennen, waren im gesamten Turnier die beste Mannschaft (6 Siege). Sie hatten, so wurde süffisant in Publikationen bemerkt, den ältesten Trainer (Luis Aragonés, 69) und die jüngsten und kleinsten Spieler. Im Finale waren die flinken und kombinationsfreudigen Spanier nicht zu bremsen: Sie gewannen verdient gegen die müden Deutschen mit 1:0. Fernando Torres erzielte in der 33. Minute das entscheidende Tor. Damit wurden die Spanier nach 1964 zum 2. Mal Europameister. Vor dem Turnier hätte das den Spaniern kein Mensch zugetraut. So namhafte Vertreter der Fussballkunst wie die Kicker von Portugal, Frankreich, Italien und den Niederlanden, schieden mit ihren Mannschaften schon vorher aus. Teilweise hatten die Trainer zu viele „ältere Herren“ auf den Rasen geschickt, und diese spielten wohl ein veraltetes System. Das Spiel der Spanier war demgegenüber modern und unglaublich variabel. Sie überraschten mit ihren schnellen und präzisen Kombinationen die Fachleute.
 
Joachim Löw, dem deutschen Nationaltrainer, blieb gar nichts anderes übrig, als dies zu sagen: „Wir müssen die hohe Qualität der Spanier anerkennen.“
 
René Kübler schrieb in einem Kommentar in der „Badischen Zeitung“ vom 30.06.2008, der Vizemeister Deutschland könne trotzdem zufrieden sein, weil dieser doch viel erreicht habe, obwohl einige Spieler keine EM-taugliche Form aufwiesen. Deutschland ist schliesslich der einzige Halbfinal-Teilnehmer der WM 2006, der erneut so weit vorstiess.
 
In dieser Nachbetrachtung werde ich nachstehend auf einige bemerkenswerten Begebenheiten eingehen.
 
Schön und gut
Die Österreicher und Schweizer ziehen eine positive Bilanz der Fussball-Europameisterschaft. Das geht aus den Äusserungen der Präsidenten der beiden Verbände, Ralph Zloczower und Friedrich Stickler, hervor. Leider erreichten ihre Nationalmannschaften das gesteckte Minimalziel nicht, aber die Sympathien schlugen ihnen trotzdem entgegen. Es ist durchaus möglich, dass die jeweiligen Nationalmannschaften einen Impuls für die weiteren Ziele (demnächst beginnt ja die Qualifikation zur WM 2010 in Südafrika) bekommen haben. Der Schweizer Bundesrat Samuel Schmid frohlockte: Während der EM hat es in der Schweiz weniger Staus und Verbrechen gegeben. „Beide Länder waren charmante und kompetente Gastgeber. Die EM war ein echtes Fest europäischer Integration“, resümierte der österreichische Bundeskanzler Alfred Gusenbauer. Alle lobten die „grüne EM“. Die meisten Fans reisten mit Sonderzügen ein und benutzten die öffentlichen Transportmittel. Vorbildlich.
 
Was so in Basel passierte, als die Holländer einfielen, habe ich ja schon im Blog vom 28.06.2008 „Fussball-Euro 2008 in Basel: Nette Fan-Invasion in Orange“ beschrieben. Die Holländer haben Bern und Basel zu Klein-Amsterdam verwandelt, bemerkte Christoph Ries in der „Badischen Zeitung“.
 
Was mich persönlich besonders faszinierte, war die Tatsache, dass viele Nationen friedlich miteinander feierten und es kaum Randale gab. Zum Glück wurden etliche Hooligans an der Grenze abgefangen und gleich nach Hause geschickt.
 
Reporter stark kritisiert
Die deutschen Fernsehreporter bekamen durchweg schlechte Kritiken. Sie faselten und mäkelten herum, dass man seinen Ohren kaum trauen wollte. Andere redeten so viel, dass man an eine Rundfunkreportage erinnert wurde. Auch die diversen Nachbetrachtungen waren nicht gerade vom Feinsten. So äusserte Gerhard Delling nach dem verlorenen Finalspiel der Deutschen: „Es ist heute keiner gestorben.“ Als die Deutschen gegen Spanien insgesamt nur 4 Torschüsse gewagt hatten, sprach Tom Bartels von der ARD: „Das ist nicht genug, um Europameister zu werden.“ Das hätte ich ebenfalls gewusst.
 
Besonders scharf waren die Kommentare von Lesern der Online-Ausgabe des „Stern“. „Screne“ meinte: „Dieser Tom Bartels ist mir völlig zuwider. Extrem negativ ist der Mann, er macht ein schlechtes Fussballspiel zu einer noch grösseren Qual, als es ohnehin schon ist. Da ist mir Bayern-Schleimer Béla Réthy schon lieber.“
 
Viele wünschten sich inbrünstig einen Tonausfall. Interessanterweise wurde Tom Bartels zu Beginn des Turniers von den Fernsehanstalten als der Beste angesehen. Deshalb durfte er das Finalspiel denn auch kommentieren.
 
Ein anderer („Bebuquin“) mäkelte ganz anderes herum. Er bemängelte die katastrophale Bildregie, die ständig „wichtige“ Zuschauer im VIP-Bereich, die Trainer, Auswechselspieler und die blondgelockten Spielerfrauen (80 % sollen blond sein; warum das so ist, konnte mir keiner beantworten) vorführte, während im Spielfeld schon längst weitergespielt wurde. Auch wurden besondere Spielszenen in Superzeitlupe von allen erdenklichen Seiten eingespielt, sie dauerten viel zu lange. Der Leser betonte weiterhin, er freue sich, dass man im Internet Kritik üben könne. „Denn leider fehlt es den schreibenden Journalisten der Printmedien doch am nötigen Mut, so was auch aufs Papier zu drucken.“
 
Deutsche haben die Lufthoheit
Als beim Spiel Türkei–Deutschland das Fernsehbild für 6 Minuten ausfiel, wurde Béla Réthy zum Radiomann. Er schaltete von einer Fernsehreportage in eine Rundfunkreportage um. Es war jedoch nicht Gott, der ein Einsehen mit den Redeergüssen so mancher Reporter hatte, sondern ein Gewitter über Wien, das einen Stromausfall erzeugt hatte. Das Bild wurde von der Uefa von Basel über Wien nach Mainz geleitet. Zum Glück hatten die Schweizer eine eigene Standleitung. Die Übertragung wurde dann von Basel nach Mainz geleitet – und schon war das Bild wieder da. Ich sah mir sowieso die Übertragung in SF2 an, die keinen Ausfall zu verzeichnen hatte.
 
Beim Finale Deutschland gegen Spanien war wiederum Bernhard Thurnheer der Reporter. Er meinte, die Deutschen hätten die Lufthoheit, weil sie im Schnitt 1,85 m gross sind. Die Spanier würden nur im Durchschnitt 1,78 m erreichen. Dann wies er noch auf eine Umfrage in der Schweiz hin: 62 % meinten, dass die Spanier gewinnen würden. 38 % plädierten für die Deutschen. Auch ich tippte auf Spanien.
 
Über den deutschen Spieler Thomas Hitzlsperger sagte Thurnheer: „Hitzlsperger war bei Aston Villa. Er hat wohl das englische Frühstück nicht hinuntergebracht, deshalb ist er nach Stuttgart zurückgekehrt.“
 
Die sachlichen Kommentare von Volker Finke (früher SC Freiburg) im SF2 waren ein Genuss und zeugten von hoher Sachkompetenz. Geschwafel wurde hier nicht geboten.
 
Feier mit Todesfolge
Dieser Vorfall ereignete sich nicht in den waffenverrückten Vereinigten Staaten von Amerika bzw. im „Wilden Westen“, sondern im „Wilden Osten“: In Gaziantep feuerten siegestrunkene türkische Fans nach dem 3:1-Sieg im Elfmeterschiessen gegen Kroatien wild mit scharfen Waffen in die Luft. Ein Fan wurde von einer Kugel am Kopf getroffen. Er erlag seinen Verletzungen. Nationaltrainer Fatih Terim hatte nach dem Sieg an seine Landsleute appelliert, von solchen Freudenschüssen Abstand zu nehmen. Er sagte: „Kein Sieg im Fussball ist ein Menschenleben wert. Ich hoffe, die Menschen feiern, ohne dass es zu einer Tragödie kommt.“
 
Aber das nützte alles nichts. Auch in der sonst ruhigen Schweiz wurde geschossen. Ein 56-jähriger Schweizer in Unterkulm im Kanton Aargau regte sich über das Hupkonzert türkischer Fans so auf, dass er zu seinem Kleinkalibergewehr griff und schoss. Zum Glück wurde niemand verletzt.
 
Falsche Deutschland-Fahne
In den ARD-„Tagesthemen“ kündigte der Moderator Tom Buhrow einen Beitrag zum Spiel Deutschland–Türkei an. Im Hintergrund wehte eine total verhunzte Deutschland-Fahne. Sie glänzte nicht in Schwarz-Rot-Gold, sondern in Rot-Schwarz-Gold. Wie sich später herausstellte, hatte ein Grafiker schnell eine Fahne gebastelt und sich bei der Reihenfolge der Farben vertan. Es gibt übrigens kein Land auf der Erde mit diesem Farbmuster. Eine peinliche Panne der ARD. Es ist eine Schande, dass die Redaktion keine richtige auf Vorrat hat. Am 29.06.2008 tauchte schon wieder eine solche falsche Fahne auf: Ein Fan zeigte hinter dem Reporter Dietmar Teige, der über die Fanmeile in Berlin berichtete, aus Jux eine Fahne aus der peinlichen „Tagesthemen“-Panne.
 
Wenig Interesse an Sex
Im Blog vom 03.06.2008 „Fussball-EM-Blödsinn: Der Asterix von Basel trotzt der UEFA“ berichtete ich über eine Umfrage. Danach ist ein Fussballspiel bei der EM oder WM wichtiger als Sex. Aber nur bei den Norwegern, Niederländern und Deutschen, während für die Portugiesen und Italiener der Fussball nicht so wichtig ist. Das kann man schier nicht glauben.
 
Und nun die neueste Meldung: Die Erfolge machten den Veranstaltern eines Festivals des erotischen Kinos in Madrid einen Strich durch die Rechnung, wie dpa am 30.06.2006 meldete. Es kamen nur 15 000 Zuschauer. Die Veranstalter rechneten mit der dreifachen Menge. Festivaldirektor Juli Simon sagte enttäuscht: „Der Fussball ist eines der wenigen Dinge, gegen die auch der Sex nichts ausrichten kann.“
 
Ich frage mich, weshalb man denn solch eine Veranstaltung während einer EM durchführt. Die oben genannten Umfrageergebnisse kamen wohl zu spät.
 
Probleme mit seinem Freund
Und noch eine Episode aus dem Fussballer-Leben. Eine Zeitung schrieb über den italienischen Stürmer Luca Toni, er habe sich einem Spieler, der auch beim FC Bayern spielt, so offenbart: „Ich habe ein Problem mit meinem Freund.“ Alle glaubten, er habe Potenzprobleme. Aber dann kam die Auflösung: Er meinte den Ball, den er nicht mehr richtig trifft. Während der Euro 2008 hat er kein einziges Tor geschossen.
 
Es gab also viele Verrücktheiten und auch schöne Momente während der Euro 2008. Die Austragungsländer Österreich und Schweiz haben die Euro 2008 hervorragend organisiert und viele neue Freunde gewonnen. Auch wurden kaum Randale bekannt.
 
Es bleibt zu hoffen, dass die Ausgeschiedenen von dem begeisternden, schnellen Angriffsfussball der Spanier etwas lernen. Sie haben ja 2 Jahre Zeit – bis zur WM 2010 in Südafrika.
 
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