Textatelier
BLOG vom: 12.08.2008

Unterwegs in Tschechien (IV): Wandern im Altvatergebirge

Autor: Heinz Scholz, Wissenschaftspublizist, Schopfheim D
 
„Alles was Urahnen, Ahnen und Eltern gebaut und erwirtschaftet hatten, blieb zurück. Vor allem jedoch ein Stück des Herzens. Denn Heimat, was immer man darunter verstehen will, Heimat lässt sich nicht ersetzen.“
(Ilse Flemmich)
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„Das muss ein armer Schlucker sein,
dem nimmer fiel das Wandern ein.
Wenn`s Wandern mir nicht mehr gefällt,
dann pfeif` ich auf die schöne Welt
und wandre ohne Scheideleid
mit Visum in die Ewigkeit.“
(Viktor Heeger in seinen „Koppenbriefen“, 1926)
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Der Heimatdichter Viktor Heeger (1858‒1935), der 1921 auf das Koppenhaus bei Gräfenberg übersiedelte, verfasste den 70. Koppenbrief über die Wanderlust. Er schrieb 1926 ganz Amüsantes über das lustvolle Wandern: „Aber die Freude am Wandern ist unsterblich und wird es bleiben, solange noch Deutsche in der Welt leben.“ Dann berichtete er, dass auf „unseren Heidebergen ganze Rudel von 60- bis 70-jährigen Wanderknaben in toller Fröhlichkeit, manche in voller Brunft mit und ohne Kahlwild, mit und ohne Beihirsch“ herumwandern. „Und erst das Jungvolk! Das ist ein Summen und Singen da oben, als ob sich ein Menschenschwarm nach Bienenart ins Heidkraut niedergelassen hätte.“
 
Am 5. und 7. Tag unseres Urlaubs in Tschechien unternahmen wir schon die lange geplanten Wanderungen im Altvatergebirge. Wir mussten wegen der wechselhaften Witterung umdisponieren und verschoben die Touren auf die Tage mit schönem Wetter.
 
Nun, wir sahen, im Gegensatz zu Viktor Heeger, keine jubilierenden Wanderer. Die einzigen, die ein Lied trällerten, waren wir. Da zu jener Zeit in Tschechien Schulferien waren, sahen wir viele Eltern mit ihren Kindern dort herumsteigen.
 
Viktor Heeger schrieb auch dies: „Ein Ausflug auf die Schäferei, den Altvater, Hochschar oder gar auf den Spieglitzer, das waren schon gewaltige Unternehmungen mit wochenlanger Vorbereitung, rührendem Abschied und Hinterlassung eines rechtskräftigen Testaments.“ Heute ist es viel einfacher, da gibt es sehr gute, ausgeschilderte Wanderwege und auch Sessellifte, die den Wanderer in ungeahnte Höhen bringen.
 
Das Altvatergebirge („Hohes Gesenke“) schätzen nicht nur Wanderer und Mountainbiker, sondern auch Anhänger der Adrenalinsportarten. Das Klettern auf Felsen oder ein Fallschirmabsprung gehören heute wohl zu den unvergesslichen Erlebnissen dieser Waghalsigen.
 
Die Drei-Berge-Wanderung
Am 5. Tag war es soweit: Wir hatten vor, eine Drei-Berge-Wanderung auf den Serák (1351 m), Keprnik (1423 m) und Vozky (1377 m) zu machen. Eine gewaltige Tour, wird sich so mancher denken. Aber weit gefehlt. Wir benutzten den Sessellift von Ranzová aus. Die Fahrt mit dem altertümlichen Gefährt war schon ein Erlebnis. Nach 30 Minuten erreichten wir die Station. Und damit hatten wir den schwierigsten Teil der Route schon bewältigt.
 
Dann ging es im flotten Tempo zum Serák (Hochschar). Immer wieder erlebten wir die Sicht zu den hohen Bergen des Altvatergebirgs, den malerischen Tälern und den Windkraftanlagen der Gemeinde Ostruzná. Während wir dem Keprnikgipfel zustrebten, erblickten wir in der Ferne den Altvater mit seinem markanten Fernsehturm. Auf dem Weg zum 2. Berg sahen wir viele vertrocknete Bäume, dazwischen Latschenkiefern, Fichten und ein Meer von Heidelbeersträuchern.
 
Eine Hinweistafel gab uns Kunde vom höchsten Wald im Jeseniky-(Altvater-)Gebirge, den wir durchschritten. Vor 200 Jahren gab es an dieser Stelle anstelle von Wald nur Gebirgswiesen. Das Holz wurde nämlich gnadenlos für die Öfen zum Schmelzen von Eisenerz in den Tälern der Jeseniky gebraucht. Die Förster waren über diese Abholzung nicht gerade erfreut. Im Juni 1853 erhielten diese ein Schreiben vom kaiserlich-österreichischen Forstverein. Der Text lautete: „Wem es gelingt, die meisten Wiesenflächen hoch oben in den Bergen zu bewalden, gewinnt 400 Dukaten.“
 
Nun begann ein Wettlauf zwischen den Förstern der verschiedenen Herrschaftsgebiete. Die hiesigen Förster von Branná, unter Leitung von Waldmeister Zirnfuss, gewannen den 2. Preis und damit 300 Dukaten.
 
Heute ist hier ein Naturschutzgebiet. 0,5 km von Serák entfernt prangte auf einem Pfahl eine Hinweistafel mit der dreisprachigen Aufschrift „Benutzen Sie nur die markierten Pfade.“ Daran hielten wir uns, aber auch die anderen Wanderer, vorbildlich.
 
Auf den Wandertafeln las ich, wir befänden uns 10 km vor Cervenohorské und auf einem Stück der Route Nr. 34 Ramzová–Cervenohorské. Es ist ein Teil des Internationalen Wanderwegs E3 Eisenach‒Budapest.
 
Vom Keprnikgipfel hatten wir eine herrliche Rundumsicht auf die Berge des Altvatergebirgs. Leider war an diesem Tag die Fernsicht nicht optimal. Auch zogen dunkle Wolken auf, die sich dann zum Glück wieder lichteten, als wir den 3. Gipfel, den Vozky erreichten. Der Gipfel hat 2 stark zerklüftete markante Felsen. Hier rasteten wir bei herrlichem Sonnenschein und genossen die Aussicht. Und immer wieder sahen wir den Altvater, den wir am 7. Tag besteigen sollten.
 
Während der Rast fotografierte ich schöne Bestände von Schlangen-Knöterich zwischen den Felsen. Auf den Gesteinen bemerkte ich einige Flechtenarten. Dies zeugt ja davon, dass hier immer eine schadstoffarme Luft herrscht.
 
Auf dem Rückweg nahmen wir die abgestorbenen Bäume und die Flora in den Wäldern näher in Augenschein. Als Jürgen einmal mit einen vielleicht 2 Meter hohen morschen Baumstumpf am Wegesrand in Berührung kam, stürzte dieser um und zerbrach in mehrere Teile. Nun konnte ich das Innere sehen. Das morsche hellbraune Holz war mit einem weissen Pilzgeflecht durchzogen.
 
Nach einer insgesamt 4-stündigen Wanderung erreichten wir wieder den Serák und kehrten in der „Chata Ilriho na Seráku“ (Georg Schutzhaus Hochschar) ein. Das Haus wurde übrigens am 28. Juli 1888 vom Mährisch-Schlesischen-Sudetengebirgsverein eröffnet.
 
Und in diesem Schutzhaus konnten wir wieder schlemmen und ein kühles Bier geniessen. Ich ass „Ovocný knedlik“, das sind Heidelbeerknödel für 65 Kc. Es gab auch gefüllte Kartoffelknödel mit Kraut, aber auch das obligatorische Gulasch.
 
Gesättigt und wohlig erreichten wir dann wieder die Bergstation, wo wir uns mit dem Sessellift etwa 30 Minuten hinuntergleiten liessen.
 
Ein Traum wird wahr: Besteigung des Altvaters
Am 7. Tag unseres Urlaubes sollte ein Traum von mir wahr werden. Wir hatten vor, den Altvater (Pradìd) zu besteigen, aber nur bei schönem Wetter. Trotz schlechter Prognosen hellte es sich am Morgen auf, und wir konnten das Wagnis eingehen. Wir fuhren über Jeseník und Vrbno nach Karlova Studánka (Bad Karlsbrunn). Dieses Bad am Fusse des Altvaters verdankt seine Entstehung den heilkräftigen Quellen. Die 1862 gefasste Wilhelms-Quelle hat einen hohen Anteil an doppeltkohlensaurem Eisen. Trinkkuren helfen Menschen mit Blutarmut und Herzkrankheiten. Die Trinkkuren werden durch Moor- und Schwefel-Bäder ergänzt.
 
Unweit von Bad Karlsbrunn benutzten wir eine Mautstrasse (180 Kc) und erreichten auf einer guten Strasse die ehemalige Schäferei, wo sich heute das Selbstbedienungsrestaurant „Chata Sabinka“ befindet. Von Karlova Studánka gibt es auch einen Shuttlebusverkehr.
 
Meine Tante Anni war in ihrer Schulzeit des Öfteren dort oben auf dem Altvater. „Das Kennenlernen der Schönheiten unserer Heimat gehörte auch zu den Selbstverständlichkeiten von jung und alt“, schrieb Ilse Flemmich im „Nordmährischen Heimatbuch 1992“ und bemerkte, dass in ihrer Jugendzeit nur wenige Autos herumfuhren. „Man verliess sich zu allen Jahreszeiten auf Schusters Rappen.“
 
Was hatte ich schon über den zweithöchsten Berg Tschechiens (1492 m) alles gehört. Alte Abbildungen erinnerten mich an den Feldberg im südlichen Schwarzwald, der nur einen Meter höher ist. In Gedanken sah ich uns schon auf herrlichen Wanderwegen in die Höhe gehen. Aber dann kam das böse Erwachen. Massen von Wanderern waren auf einer breiten asphaltierten Strasse unterwegs zum Gipfel. Die Strasse dient ausschliesslich zu Wirtschaftszwecken. Da auch um den Altvater ein Naturschutzgebiet ist, wurden 2 ehemalige Wanderwege gesperrt und die Besuchermassen kanalisiert. Dies ist auch bei uns auf dem Feldberg und dem Belchen der Fall. Früher trampelten die rücksichtslosen Gäste auf dem Belchen und dem Feldberg alles nieder; sie wanderten kreuz und quer herum. Die Grasnarben verschwanden. Erst nachdem die Wanderer auf wenigen Wegen gezwungen wurden, nur dort zu wandern, erholte sich die Natur. Auf dem Altvater war es genauso.
 
Im unteren Teil des Wegs entdeckte ich eine Flora, die auch bei uns im Schwarzwald vorhanden ist. So erblickte ich das Fuchs-Kreuzkraut, den Storchenschnabel, Knöterich, Blut-Weiderich, das Johanniskraut, die Goldrute, das Weidenröschen, den Wilden Dost, Hahnenfuss, Margueriten und viele Heidelbeersträucher. In der Nähe des Gipfels bemerkte ich gelbe Farbtupfer (gelbe Blütenköpfe, die einzeln oder in lockerer Doldentraube angeordnet sind) im Grün der Wiese. Sollte das die Arnika oder eine mir unbekannte Pflanze sein? Ich verliess kurz den offiziellen Weg und ging etwa 3 Meter zu dieser Pflanzengesellschaft mit ungefähr 50 Blüten, um eine Nahaufnahme zu machen. Meine Vermutung, es handle sich um den Echten Alant (Iluna helenium) wurde später durch ein Bestimmungsbuch bestätigt. Ich war wirklich überrascht, hier diese alte Heilpflanze zu finden.
 
Der Auszug der Alantwurzel wirkt hustenreizstillend und auswurffördernd, aber auch bei chronischer Magen-Darm-Reizung und Menstruationsstörungen (schmerzhafte oder ausbleibende Regel).
 
Leider entdeckte ich nicht den Köpernikel (Madaun, Alpen-Mutterwurz = Ligusticum mutellina) und die Arnika. Diese Pflanzen faszinierten mich besonders, weil Viktor Heeger 1909 das Buch „Köpernikel und Arnika“ (Geschichten und Gedichtla aus der deutschen Schles) publizierte und anderseits auch ich kurz vor unserer Abreise die Arnika auf dem Feldberg in grösseren Mengen gesehen hatte. Vielleicht erblühten die beiden Pflanzen an nicht von Menschen frequentierten Wegen bzw. an besonders geschützten Stellen. Die Wurzel des Könpernikels war Bestandteil des „Altvaterkräuterbitters“.
 
Bei unserem Aufstieg zum Altvaterplateau waren überall Fichten zu sehen. Je höher wir kamen, umso weniger wurden sie, bis sie ganz verschwanden.
 
Auf einer Tafel auf halber Höhe konnte ich in Deutsch dies lesen: „Wer weht denn da im Wind? Der Herr der Berge ist zu Hause. Zum Zeichen seiner Anwesenheit hat er auf den Bergen viele Fahnen gelassen, die wir in diesen Höhen fast an jeder Fichte finden. Sehen Sie sie nicht? Die Äste selbst, besonders an den Baumgipfeln, schaffen eine imaginäre Fahne. Haben Sie bemerkt, dass sie alle ungefähr in dieselbe Richtung wehen, als ob der Wind nur aus einer Seite blasen würde?“ In der Tat bemerkte ich erst jetzt die Fichten mit gekrümmten Wipfeln, die ich dann auch fotografierte.
 
Und immer wieder sahen wir den Altvaterturm 146,5 m in die Höhe ragen. Auf der Höhe von 73 m befindet sich eine Aussichtsgalerie, die per Lift erreicht werden kann. Der 1983 eingeweihte Fernsehturm, der nach Plänen des Brünner Architekten Jan Liška erbaut wurde, sieht futuristisch aus und passt gut in die Landschaft. Ich bin zwar nicht für solche modernen Türme, aber hier war ich angenehm überrascht. Er wirkte bei dem schäfchenförmigen Wolkenbild und den heraufziehenden Quellwolken majestätisch und gigantisch.
 
Vom Gipfelplateau hat man einen fantastischen Rundblick auf Jeseník (Freiwaldau) und bis nach Freudenthal (Bruntál). Bei guter Sicht blickt man sogar bis Breslau und zu anderen Bergen in Schlesien, Mähren und Böhmen.
 
Der 100 km lange Höhenzug des Altvatergebirges zwischen Glatzer Kessel und Mährischer Pforte ist eine europäische Hauptwasserscheide. Die Berge aus Urgestein (Gneis, Granit, Schiefer und Grauwacke) wurden durch die Verwitterung in Jahrmillionen zu sanften Kuppen abgerundet.
 
Nach dem Rundgang genossen wir alle im Restaurant Hotel Pradéd (www.hotelpraded.cz) einen Kaffee und zwar nicht einen x-beliebigen, sondern einen Dallmayr-Kaffee. Wahrscheinlich hat ein Heimatvertriebener aus Bayern diesen Kaffee empfohlen. Es war der beste Kaffee auf unserer Tschechien-Reise.
 
Nach kurzem Aufenthalt ging es wieder abwärts Richtung Parkplatz. Im Selbstbedienungsrestaurant „Chata Sabinka“ konnte ich nicht an einem Blaubeerkuchen mit Streusel für 25 Kc vorübergehen. Der etwas eingetrocknete Kuchen war sicherlich vom Vortag, er schmeckte jedoch noch ganz gut.
 
Übrigens stand bis 1959 noch der alte Altvaterturm mit einer Höhe von 32,5 m und einer Breite von 14,5 m auf der Kuppe. Der im neugotischen Stil nach den Plänen des Architekten Franz Ritter von Neumann aus Wien errichtete Turm wurde 1912 eingeweiht. Der Turm wurde „Habsburgerwarte“ und später „Adolf-Hitler-Turm“ genannt. Da der Turm aus Sparsamkeitsgründen mit einem ungeeigneten Gestein (Grauwacke) erbaut wurde, gab es immer wieder Sanierungen. Es entstanden bis zu 3 m lange Risse, der Turm wurde 1957 baupolizeilich gesperrt. Am 2. Mai 1959 fiel der Turm in sich zusammen.
 
Übrigens gibt es eine Nachbildung des alten Altvaterturmes auf dem Wetzstein bei Lehesten im Thüringer Schiefergebirge am Rande des Frankenwalds.
 
Es waren in der Tat 2 aufregende und schöne Tage in einer grandiosen Landschaft. Kein Wunder, dass hier nicht nur Dichter ins Schwärmen geraten.
 
Fortsetzung folgt.
 
Infos im Internet
www.altvaterturm.de (im Hauptmenü rechts unter „Bilder“ anklicken)
http://de.wikipedia.org/wiki/Prad%C4%9Bd (Infos über den Altvater)
www.baern.de/Berichte/08%20A%20poor%20nouch.pdf (Zum 150. Geburtstag Viktor Heegers)
 
Literatur
Heeger, Viktor: „Koppenbriefe“, herausgegeben von Josef Walter König,Verlag Adolf Gödel, Inning (Ammersee), 1960.
„Nordmährisches Heimatbuch 1992“, Helmut Preussler Verlag, Nürnberg, 1992.
 
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