Textatelier
BLOG vom: 31.03.2009

Armut ist kein Laster – Scharf belichtete Gegensätze

Autor: Emil Baschnonga, Aphoristiker und Schriftsteller, London
 
Die bekannte Sentenz „Armut ist kein Laster“ entstammt dem mittelalterlichen Latein: „Paupertas non est vitium“ und findet sich in allen Sprachen: „La pauvreté n’est pas un vice“, „Poverty ist not a crime“ usf. Sie ist biegsam, lässt sich verdrehen und hat unzählige Zitate geprägt: Armut verleitet zu Laster. Armut macht frei. Armut ist ein schlimmer Gast. Armut ist schlimmer als Krankheit. Die Armen sind die Füsse und Hände der Reichen. Ich kann sie nicht aufzählen.
Diese Sentenz mit dem Bezug zum Laster kam mir gestern in den Sinn, als ich erfuhr, dass Obdachlose in London mit Wasserfontänen von ihren kargen Schlafstätten in den Strassen vertrieben werden. Das ist ein Armutszeugnis. Sie sollen die Obdachlosenheime aufsuchen, wird ihnen empfohlen. Touristen wollen in der Öffentlichkeit nicht von armseligen Tagedieben abgeschreckt und behelligt werden, vor allem nicht in den vornehmen Stadtteilen wie Knightsbridge, wo Harrods und andere Luxusgeschäfte herausgeputzt den Reichen scharwenzelnd aufwarten.
 
Die Ordnungshüter sind dort berechtigt, Bettler von den Strassen zu weisen. Falls sie sich nicht vertreiben lassen, haben sie die Wahl, entweder £ 5000 zu bezahlen oder ins Gefängnis gesteckt zu werden. Habe ich richtig gelesen? Ja! Ist das englische Pfund derart abgewertet? frage ich mich. Verglichen mit Bettlern mit £ 5000 in der Tasche, bin ich der ärmste „Schlucker" in ganz London.
 
Jetzt werden Teile von London für die G20-‚Ver(un)staltung‘ rund um Westminster gesäubert und Strassenarbeiten eingestellt. Barack Obama und Gefolgschaft werden in der amerikanischen Botschaft einquartiert, unweit des Buckingham-Palasts und Downing Street, wo er und seine Gattin wie der Herrgott im Paradies von der Königin und dem Premier Gordon Brown exklusiv empfangen werden. Seine Mannschaft von Leibwächtern wird seine kurze Limousinefahrt dorthin absichern. Soll sich ihm ja niemand in den Weg stellen! Zu den ExCel-Hallen wird er geflogen. So viel zum Umweltschutz.
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Á propos Harrods: Fischte ich doch letzte Woche das Harrods-Frühlingsangebot aus unserem Briefkasten, ein luxuriös gestalteter Katalog. Bis zu 50 % Rabatt wird und viele Lockvögel werden angeboten. Eine Kristallschale von Lalique aus der „Daydream“(Tagestraum)-Reihe kostet … Nein, der Preis wird wohlweislich verschwiegen. Wer sich danach erkundigt, kann kein Käufer sein und wird folglich als Bettler eingestuft. Die Jura-Kaffeemaschine, Modell J5, aus der Schweiz liegt in der Kaffee-Boutique im 2. Stock auf. Wer sich die J5 erwirbt, erhält „with our compliments“ kostenlos Zubehör im Wert von £ 50, verspricht Harrods. In unserer Küche gurgelt eine emaillierte Kaffeemaschine, die uns meine Mutter zur Hochzeit geschenkt hat. Möge diese Antiquität noch lange weiter gurgeln und Dampf ablassen.
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Sei der Faden wieder aufgegriffen: Zu Dickens Zeiten waren es die Armenhäuser, wo die Ärmsten, ob sie es wollten oder nicht, eingeliefert wurden, mitsamt Frauen und Kindern. Die Armut wurde damals wie heute hinter Türen verbannt. Die Clochards in Paris haben es besser: Viele von ihnen verziehen sich nachtsüber auf die Bänke der Metro mit einer Weinflasche.
 
Landstreicher, Hausierer und Bettler lassen sich nicht verbannen. In der materialistischen Welt werden sie als Faulenzer, arbeitsscheues Gesindel geächtet. Ihre Armut sei selbstverschuldet, meinen die Hartgesottenen. Zu diesem Kollektivurteil kann ich nur bemerken, dass der Mangel an Nächstenliebe die grösste Armut ist. Wer kennt die Hintergründe, die in Not und Armut treiben? 
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Sokrates war arm und reich in seiner Tonne … „Tritt mir aus der Sonne“, schnauzte er Alexander an. So möchte ich das Armutsthema von einer anderen Seite angehen, angesichts der weitverbreiteten geistigen Armut. Aber nicht mit einer philosophischen Abhandlung, sondern schlicht und einfach mit einigen Aphorismen, alten und neuen, die direkt oder indirekt zum Thema passen:
 
Ein armer Tropf guckte in seinen leeren Topf und stülpte ihn über seinen Kopf. Das soll ihm ein Reicher nachmachen.
 
So arm er auch war, fuhr er auf der Gedankenbahn stets erste Klasse.
 
Wessen Magen knurrt, dessen Mund bissig wird.
 
Wessen Kasse leer ist, suche Trost beim Geist.
 
Ein gutes Gewissen stopft das Loch in der Tasche.
 
Luftschlösser kosten nichts.
 
Gleichgültig wie hungrig er war, stillte er seinen Lesehunger.
 
Arme teilen Speisen leichter als Reiche.
 
Den Schweiss der Armen verwandeln Reiche in Gold.
 
Mit der Vorstellung sonnt sich selbst im Schatten.
 
Er hielt Einkehr und bewirtete sich fürstlich.
 
Knappe sind die besten Mittel zum soliden Lebenswandel.
 
Dort verdient man weniger, doch kommt man besser aus. Die Frage ist nur: Wo?
 
Tröste dich: Solange dein Leid jemand Freude bereitet, ist es nicht umsonst.
 
Der Gauner sprach von Teilnahme und nahm mehr als seinen Teil.
 
Kaum zu glauben, wie leicht der Glaube an Gott sich über Menschen hinwegsetzt.
 
Eine Glückssträhne soll niemand scheiteln; eine Pechsträhne hingegen jedermann gelockt tragen.
 
Aus Not entstanden schon viele Tugenden. Es wäre anders, brächten Tugenden in Not.
 
Mit Münz in der Hand trifft man Mützen im ganzen Land.
 
Sein Herz habe er verloren, sagte er. Nein, es ist ihm davongelaufen!
 
Auch ein Trost: Der Luftzug trägt die Feder eines Spatzen weiter als die des Pfaus.
 
Ein kleines Laster verunstaltet weniger als eine gebauschte Tugend.
 
Die meisten Trostpillen schmecken bitter.
 
Wunschverzicht ist beste Altersvorsorge.
 
Wir sollten jene Erfolge missachten lernen, die den Raubbau an der Mitwelt bedingen.
 
 
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