Textatelier
BLOG vom: 19.08.2010

Das Korrektorensterben beschleunigt das Zeitungssterben

Autor: Ernst Bohren, Teufenthal AG/CH
 
Haben Südfrüchte wie zum Beispiel Bananen und Orangen unser Kernobst aus dem Markt gedrängt? Mitnichten, denn die Obstproduzenten haben rechtzeitig mit der Züchtung neuer Sorten ihre Äpfel und Birnen den Anforderungen des Markts und der Logistik der Grossverteiler angepasst. Dass dabei die alten regionalen Sorten, vom Bernerrosenapfel bis zur echten Williamsbutterbirne, auf der Strecke bleiben mussten, ist leider eine Tatsache. Doch hier könnten sich unsere 2 grössten Grossverteiler einige Verdienste erarbeiten, indem sie in enger Zusammenarbeit mit ProSpecieRara alte Obstsorten in einem regionalen Sortiment näher an die Konsumenten heranbringen. Und dass durch die Favorisierung der Niederstammkulturen die traditionellen Hochstammobstbäume und die in ihren Kronen nistende Vogelwelt immer mehr in Bedrängnis geraten, ist ebenfalls sehr zu bedauern. Aber auch da liesse sich mit einer vernünftigen Landschafts- und Landwirtschaftsplanung vieles wieder gutmachen.
 
Was aber haben denn nun die Obstbauern mit Zeitungen und ihren Verlegern gemeinsam? Vor allem etwas Grundsätzliches: Als sich die Obstproduzenten mit Qualitätsverbesserungen an einen veränderten Markt anpassten, haben die meisten Herausgeber von Printmedien den Beginn des elektronischen Zeitalters verschlafen. Wohl haben sie vom herkömmlichen Buchdruck auf das Offsetverfahren gewechselt, die wenigsten aber machten sich auch ernsthaft Gedanken darüber, was sie den Gratiszeitungen entgegensetzen könnten. Während sie, gebannt wie das Kaninchen auf die Schlange, der rasanten Veränderung der Medienwelt zuschauten, haben einige von ihnen noch munter an ihrem eigenen Begräbnis mitgewirkt, indem sie sich sogar um die Vergabe von Produktions- und Druckaufträgen für die Gratiszeitungen regelrecht gerissen haben. Und viele prostituierten sich auch im Internet mit einer eigenen Gratis-Online-Ausgabe. Dabei wäre alles viel einfacher zu haben gewesen. Zum Beispiel durch Qualitätsverbesserung des eigenen Titels.
 
Gerade diese Chance aber wurde ein für allemal verpasst. Nachdem das Zeitalter des Bleisatzes überwunden war, wurden – dank dem phänomenalen Gestaltungsprogramm QuarkXPress von Adobe ‑ sämtliche Setzer und Metteure zu Polygraphen umfunktioniert. Die Verlage schalteten rigoros auf Spargang, koste es, was es wolle. Heute wissen wir, dass es im gesamten grafischen Gewerbe vor allem Arbeitsplätze gekostet hat. Darüber hinaus hat es nichts gebracht, ausser einem empfindlichen Qualitätsverlust. Und weil das neue Gestaltungsprogramm von Adobe nun alle denkbaren Darstellungsvarianten ermöglichte, hat man aus den einstmals zwar einfach, aber lesbar daherkommenden Zeitungen im Handumdrehen so etwas wie „Fix-und-Foxi“-Blättchen gemacht. Nach den Vorgaben von teuren Design-Gurus wurde mit einem oder mehreren Relaunches die alte Darstellung über den Haufen geworfen und die traditionelle Zeitung an die (vermeintlich) neuen Bedürfnisse der Leser herangeführt. Da werkelten (und werkeln noch immer) die selbsternannten Design- und Gestaltungs-Päpste munter und gut bezahlt an neuen Titelverunstaltungen herum, setzen neue, weniger gut lesbare Schriften ein, bestücken Bilder an den unmöglichsten Orten mit Bildlegenden und wechseln auf der gleichen Seite hemmungslos mehrmals die Spaltenbreite. Erst kürzlich hat sogar die „Neue Zürcher Zeitung“ ihr Erscheinungsbild gewechselt, wenn auch – wie es sich für eine „Alte Tante“ gehört ‑ sehr moderat, aber doch anpasserisch.
 
Dass sich dazu im Gleichschritt mit dem Formalen auch der Inhalt der neuen Zeit angepasst hat, ist nur folgerichtig: Die Redaktionen ‑ selbst von ernst zunehmenden Zeitungen ‑ verschreiben sich immer mehr der Berichterstattung nach Art des Boulevards. Personifizierung ist Trumpf, und infantiler Glanz und Glimmer glitzert je länger desto lieber auf den People-Seiten. Und auch in „seriösen“ Zeitungen werden den Lesern in sogenannten Kampagnen druckfrische Meinungen vorgesetzt. Oder es wird den Abonnenten durch das Verschweigen von Fakten das Selberdenken erschwert.
 
Was aber vielen Lesern nachhaltig ins Auge sticht, ist der schludrige Umgang mit der Sprache. Diesen haben wohl die wenigsten Journalisten an seriösen Schulen gelernt, sondern sich im Laufe ihrer Karriere angeeignet. Daraus kann man ihnen nicht einmal einen Vorwurf machen, sind sie doch jetzt ‑ nachdem die Verleger ihre Kostenfaktoren im Bereich Satz und Gestaltung auf die Strasse gestellt haben ‑ selber zur Produktion ihrer Schreibe am Computer verpflichtet. Dass dann auch wieder mehr Fehler geschehen, ist nur allzu verständlich.
 
„Aber da sind doch noch die Korrektoren!“, werden Sie jetzt ausrufen und darauf hinweisen, dass doch jede Zeitungsseite, bevor sie in die weitere Verarbeitung kommt, nochmals revidiert wird. Vergessen Sie all diese nostalgisch anmutenden Abläufe; sie kosten nur Zeit und Geld. Die fertige Seite wird längst nicht mehr kontrolliert. Wie sonst könnten denn Verwechslungen von Bildlegenden und viele andere Sprach- und Gestaltungsgräuel durchgehen? Den Kostenfaktor „Korrektor“ haben die meisten Verleger kurzerhand abgeschafft; an ihrer Stelle waltet das Rechtschreibungsprogramm von „Word“.
 
Nun kann ein Computer zwar unglaublich schnell 1 und 2 zusammenzählen, aber er weiss nicht mehr als das, was man ihm eingegeben hat. Im Klartext: Kein noch so raffiniertes Rechtschreibeprogramm kann selbständig und in Zusammenhängen denken. Es kennt die deutsche Sprache nicht und weiss nicht, ob ein eingegebener Begriff sachlich und inhaltlich korrekt ist. Das Programm ist zwar orthografisch einigermassen beschlagen, aber in Dingen wie Syntax und Grammatik kennt es sich nicht aus. Auch bei Trennungen leistet sich das entsprechende Programm manchmal die schönsten Böcke. Wenn es ein Wort nicht kennt, lässt es die Silbentrennung beiseite und trennt vorzugsweise nach orthografischen Regeln. Etwas salopp gesagt: Sowohl das Trenn- als auch das Rechtschreibungsprogramm hat Tomaten auf den Augen und schluckt jeden Käse.
 
Doch wir wollen nicht nachtragend sein. Durchgegangene Druckfehler sorgen beim Leser nicht immer nur für Ärger. Manchmal animieren sie auch zum heiteren Zutatenraten. So wie der Satz im Artikel über das „Mini-Mini-Davos“ (gemeint war das Filmfestival in Locarno) im Tages-Anzeiger vom 09.08.2010. Über elitäre Gäste aus Wirtschaft und Politik schrieb Erika Burri: „(…) Bis zum Ende des Festivals werden 4 Bundesräte in Locarno gewesen sein. Bundespräsidentin Doris Leuthard eröffnete. Moritz Leuenberger sitzt am Freitag auf der Pizza Grande um seinen Sohn im Film über den Schweizer Radprofi Hugo Koblet zu sehen (…).“
 
Das wirft natürlich Fragen der existenziellen Art auf: Welche Art von Pizza-Belägen wird Moritz Leuenberger an seinem Hintern davontragen, wenn er sich von der grossen Pizza erhoben und die Piazza Grande in Locarno verlassen hat? Ob „Pizza Napoli“, „Margherita“ oder „Quattro Stagioni“; die beiden Hauptingredienzen jeder Pizza werden auf jeden Fall dabei sein: Tomaten und Käse.
 
 
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