Textatelier
BLOG vom: 06.10.2010

Geschichte, die das Leben schrieb: Die verlorenen 4. Zähne

Autorin: Lislott Pfaff, Schriftstellerin, Liestal BL/CH
 
Vor ein paar Tagen wollte ich meine 4. oberen Zähne aus der Hosentasche angeln und im Mund platzieren, nachdem ich sie nach einer Mahlzeit gereinigt und – vermeintlich – in eben dieser Tasche versorgt hatte. Irrtum, das Biis (Kurzbezeichnung für Zahnprothese) befand sich nicht in den Tiefen der Hosentasche. Wenn nicht dort, dann musste es logischerweise irgendwo in der Küche herumliegen, denn dort war das Beisswerkzeug ja zuletzt in Gebrauch gewesen. Also suchte ich hier in der Überzeugung, dass das Biis gleich zum Vorschein kommen würde. Dabei erlebte ich meinen ersten Schreck: Das Ding war nirgends zu sehen, weder im Schüttstein, noch auf der Kombination, noch auf dem Herd, noch auf dem Tisch, noch auf dem Fenstersims. Jesses, hatte ich es etwa zusammen mit den Speiseresten im Abfalleimer entsorgt? Zitternd vor Aufregung riss ich den Eimer aus seinem Gehäuse unter dem Schüttstein und begann, die Abfälle einzeln aus dem Plastiksack herauszufischen, um diesen bis auf den Grund zu durchwühlen. Das Resultat: verdreckte Hände, aber kein Biis.
 
Also musste ich es anderswo im Haus liegen gelassen oder – schlimmer noch – verloren haben. Ich begab mich ins Wohnzimmer, warf meine scharfen Blicke auf und unter alle Möbel, legte mich auf den Bauch, um unter das Sofa zu linsen, öffnete den Klavierdeckel und sämtliche Schreibtisch-Schubladen. Keine Zahnprothese weit und breit. Nächste Suchstation war das WC. Mein Gott, hoffentlich hab’ ich das Ding nicht in die Schüssel fallen lassen und hinuntergespült ...! Jedenfalls lag es weder im Lavabo noch oberhalb davon auf der Ablage. Auch der Boden, wenn auch nicht ganz sauber, war biislos.
 
Allmählich geriet ich in einen Schockzustand und stieg mit düsteren Vorahnungen die fünf Stufen zum Badezimmer hoch. Zweitausend Franken im Eimer, jammerte ich innerlich, zwar nicht im Abfall-, sondern im Verlusteimer, unwiederbringlich… Das Badezimmer sah leidlich ordentlich aus, und ich spähte in alle Ecken, in die Badewanne, ins Zahnglas, hob den Teppich vor dem Lavabo hoch – vergeblich. Jetzt kam nur noch das Schlafzimmer in Frage. Hier war der Suchvorgang etwas kompliziert wegen der bunten Muster des Perserteppichs, wodurch ein eventuell herumliegender kleiner rosa-weisser Gegenstand nur schwer erkennbar gewesen wäre. Ich liess mich auf die Knie nieder und suchte minutiös die farbenfrohen Ornamente des Teppichs ab, der einen grossen Teil des Raums einnimmt. Zentimeter um Zentimeter – ohne Erfolg. Ebenfalls ergebnislos verlief die gründliche Beleuchtung des Parkettbodens unter dem Bett mit einer Taschenlampe. Mein Schockzustand intensivierte sich erheblich.
 
Rat- und tatlos blieb ich eine Weile auf einem Stuhl im Korridor sitzen und versuchte, meinen IQ auf Hochtouren zu bringen. Wo, wo könnte ich das verflixte Biis liegen gelassen bzw. verloren haben? Da, ein Gedankenblitz: die Waschküche! Dort hatte ich nämlich kurz zuvor die Wäsche aus der Maschine genommen und sie aufgehängt. Also nichts wie los die Treppe hinunter, das heisst, mühsam Schritt für Schritt, mit Hilfe des Handlaufs auf der rechten und eines Gehstocks auf der linken Seite. Unten angekommen, öffnete ich hoffnungsvoll den Deckel der Waschmaschine. Natürlich umsonst. Mit Sperberaugen suchte ich den Boden ab, blickte in und unter das Waschbecken … Das Biis war auch hier endgültig unauffindbar. Schicksalsergeben kletterte ich wieder die Treppe hoch.
 
Das Abendessen bestand aus einer Frühlingssuppe, die ich in meinem biislosen Zustand gut bewältigen konnte, aus etwas Apfelmus und einer Tasse Tee. Alles ohne oberes Gebiss in den Magen befördert… Dabei überlegte ich, wie ich nun weiterleben sollte. Es wurde mir klar: Knusprige Speisen, zum Beispiel Pommes frites, oder etwas Hartes wie Emmentaler Käse, das lag nicht mehr drin. Ich würde meinen Menuplan vollständig umkrempeln müssen. Zum Glück besitze ich einen Stabmixer … Und dann wollte ich gelegentlich mein Budget inspizieren, um herauszufinden, ob auf der Habenseite zwei- bis dreitausend Franken für ein neues Biis eventuell noch vorhanden waren.
 
In reichlich melancholischer Stimmung, müde vom vielen Nachdenken, entschloss ich mich, zu Bett zu gehen. Ich knipste das Licht im Schlafzimmer an, zog die Vorhänge vors Fenster und wollte dann das Deckbett zurückschlagen. Himmel, was glänzte denn da zartrosa auf dem nachtblauen Duvet …? Ich schaute ein zweites Mal hin: Dort lag aus unerfindlichen Gründen das Biis, schweigsam, aber gut sichtbar! Wie es dahin gelangt war, habe ich nie herausgefunden. Mit einem Schrei des Entzückens nahm ich es in die Hand. Aber denkt ja nicht, liebe Leser, dass ich es jetzt ein für allemal und sicher in meinem Mund versorgte. Nein-nein, ich trug es ins Badezimmer, um es dort in einer hübschen Keramikdose zu deponieren. An diesen Aufenthaltsort meiner unverzichtbaren oberen Zähne würde ich mich am nächsten Tag vor dem Morgenessen bestimmt noch erinnern …
 
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