Textatelier
BLOG vom: 24.05.2012

Der kranke Baldeggersee sieht immerhin recht gesund aus

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Hört man etwas vom Baldeggersee, so mutet das meistens wie eine der im Volk so beliebten Krankheitsgeschichten an: „Der See ist krank.“ Das ist sogar die Überschrift auf einer der zahlreichen Informationstafeln am rechten (östlichen) Seeufer, die den Benützer des Wanderwegs aufklären.
 
„Die Idylle trügt. Der See ringt um Luft“, liest man auf der Tafel hinter dem Uferschilfgürtel. „Seit Jahrzehnten fliesst tonnenweise überschüssiger Dünger in den See. Phosphor als wachstumsbegrenzender Nährstoff ist heute im Übermass vorhanden. Die Wirkungen sind verheerend. Ein einziges Kilogramm Phosphor ermöglicht mit dem reichlich vorhandenen Stickstoff das Wachstum von einer Tonne Algen. Später sterben diese ab, sinken auf den Seegrund und werden dort von sauerstoffzehrenden Mikroorganismen abgebaut. In der Folge entsteht in den unteren Wasserschichten grosser Sauerstoffmangel; der Lebensraum der Fische wird immer knapper, und es kommt zum Fischsterben.“ Heute reicht der Fischertrag gerade noch als Nebenerwerbseinkommen, obschon das Wasser an der Oberfläche einen überraschend sauberen Eindruck macht.
 
Eine Lektüre wie die zitierte ist nicht eben erbauend, und bevor man resigniert, wird einem noch mitgeteilt, dass der See seit 1982 künstlich beatmet wird, um den Kollaps zu verhindern. Solche Beatmungen ähnlicher Art, vorab mit Hilfe von Finanzspritzen, sind heute in vielen Ländern nötig. Und im Unterschied zur grossen Politik wissen die Ökologen, dass solche Überlebenshilfen bloss die Symptome unterdrücken und keine Gesundung herbeiführen. Man muss an die Ursachen heran: Am Baldeggersee wie auch am weiter unten liegenden Hallwilersee werden alle Abwässer gereinigt. Die Landwirtschaft erhielt Düngeauflagen, das heisst die Landwirte müssen dafür sorgen, dass sie nur ihre Felder und nicht auch noch den See mit Nährstoffen versehen, damit die beiden Seen mit der Zeit wieder ohne eiserne Lungen leben können.
 
Ich hatte den kühlen, aber sonnigen 14.05.2012 für eine Wanderung vom Schloss Baldegg nach Gelfingen im Luzerner Seetal auserkoren. Wer einen näheren Kontakt mit dem 4,5 km langen und 1 bis 1,7 km breiten Baldeggersee zwischen dem Lindenberg im Osten und dem Herlisberg im Westen sucht, wählt am besten die östliche Seite, weil der Wanderweg gegenüber über weite Strecken mit der asphaltierten Strasse identisch ist. Der See ist, erdgeschichtlich betrachtet, ein Moränenstausee in einem alten, von einem Molassequerrücken abgedämmten Alpental. Er ist von einem fruchtbaren Gelände umgeben, das eifrig genutzt wird.
 
Beim Kloster Baldegg, nördlich von Hochdorf, stellte ich mein Auto ab. Die opulente Mehrzweckanlage umfasst eine Herberge, ein Pflegeheim, ein Töchterinstitut, und im Kloster lebt die Ordensgemeinschaft der Baldegger Schwestern (www.klosterbaldegg.ch). Sie sind sozusagen die Nachfolgerinnen der am Ende des 12. Jahrhunderts aufgetauchten Herren von Baldegg, die um 1500 verschwanden. In der Bronzezeit hatten am bzw. im See sogar die Pfahlbauer ihre Holzhäuser errichtet.
 
Weil es Montag war, stand die Tür zum Klosterkafi (Café) geschlossen, wohl um die Anstrengungen des sonntäglichen Ruhetags zu kompensieren. Die recht neuzeitlich und kühl anmutende Klosteranlage, die wie Baldegg zur Gemeinde Hochdorf gehört, ersetzte die ehemalige Doppelburg, die schon 1386 durch die randalierenden Eidgenossen verwüstet, dann von der Edelfamilie von Wildberg als neuer Besitzerin wiederhergestellt wurde. Ab 1830 verdrängte ein Neubau, was von der Burg noch vorhanden war. Der Hauptteil entstand 1902/03 nach Plänen von einem Hans Müller, der sich wahrscheinlich vom Collegio Fliedner in Madrid hatte inspirieren lassen. Die recht moderne Saalkirche stammt aus dem Jahr 1939. Zweckbauten haben hier die Mittel geheiligt, was insbesondere auch auf den Schul-Erweiterungsbau in Sichtbeton aus den Jahren 1960/62 zutrifft (Architekt: Heinrich Auf der Maur). Auch das Pflegeheim ist aus Betonfertigteilen konstruiert. So ist ein Baukonglomerat herangewachsen, das gut unterhalten und mit zum Teil mit schräg blau-weiss gestreiften Fensterläden belebt ist. Es mutet wie eine Fusion von Industriebauteilen, Schloss, Schulhaus und Seelensiloanlage aus der Zeit des Funktionalismus an. Mit Wehmut denkt man bei solchen Anblicken an die heimeligen Pfahlbauten zurück.
 
In der Nähe sind die Anlagen der Stiftung Brändli, ein Bio-Ausbildungsbetrieb, und die Kantonsschule Seetal. Alpakas weiden hinter einem Gitterzaun und interessieren sich für vorbeiziehende Wanderer. Das Baldeggerseeufer mit den vorgelagerten Wiesen, Bäumen wie riesigen Silberweiden und Korb- oder Kopfweiden, Sträuchern sowie dürrem Schilfröhricht lockt. Die Korbweiden sind als alte Kulturelemente wichtige Naturschutzelemente, weil insbesondere die von Pilzen befallenen, faulenden Schnittstellen wertvolle Lebensräume sind, welche den Weiden kaum schaden. Die Silberweiden ihrerseits, die grösste Weidenart, können pro Jahr bis 2 m wachsen. Sie sind inwendig oft hohl, was verschiedene Höhlenbrüter, Vögel und Fledermäuse, zu schätzen wissen. Den Namen haben sie von den silbrigen Härchen auf der Blattunterseite. Der See ist seit 1940 im Besitz des Schweizerischen Bunds für Naturschutz (SBN) und wird offensichtlich mit Sachverstand betreut.
 
Ein Naturweg führt an all diesen Herrlichkeiten vorbei, umrundet besonders schützenswerte Stellen, wobei die Anwesenheit von Menschen (manchmal noch von Hunden begleitet) immer eine Störung ist. Die Störenfriede dürfen nur als Zaungäste in Erscheinung treten. Die Ufergehölze, die Schilfpartien und die kleinen, in den See mündenden Bächlein erwecken den Eindruck, der See lebe halt doch. 2 Ordensschwestern im Habit mit weisser und im anderen Fall schwarzer Haube strebten ebenfalls dem Wasser zu, vom Sinn fürs Wesentliche getrieben.
 
Das Wasser entfaltet immer eine starke Anziehungskraft, und so war es denn unvermeidlich, dass ich nach wenigen Wanderminuten beim Schwimmbad Baldegg angekommen war. Obschon die Wasser- und Lufttemperatur mit 16 bzw. 17 Grad C noch nicht richtig zum Schwimmen einluden, war die Badeanlage mit dem Restaurant geöffnet. Ich ergriff die Gelegenheit, aus 2 Menus (Pommes, Schweinsbratwurst und Zwiebelsauce) oder Tortelloni das erstere zu wählen. Dazu bestellte ich einen Apfelsaft und setzte mich an ein Tischchen an der Sonne. Ich war neben einem anderen älteren Mann, der zu einem Kaffee eine Nussstange verzehrte, der einzige Gast. Für mich ist es immer ein gutes Gefühl, genügend Personal um mich zu haben – hinter der Theke waren 3 Personen beschäftigt. Sie hatten mich beim Ritual des Bestellens geduldig ins Angebot eingeführt und mir beschrieben, wo ich das Besteck fassen konnte. Ich bezahlte (für Speise und Trank total 18.50 CHF), erhielt eine Nummer – ich glaube, es war die 6 –, und man sagte mir, ich werde aufgerufen, wenn das Essen bereit sei. Ich warf die Nummer gleich in einen kleinen Behälter und spasste, man werde mich ja wohl auffinden.
 
Nachdem etwa 20 Minuten vergangen waren – ein Hinweis auf frische Zubereitung –, hörte ich aus dem Bereich der Theke eine sanfte Frauenstimme, aus der ich so etwas wie „Sechs“ herauszuhören glaubte. Ich machte mich die 20 Schritte zur Tankstelle fürs Essen auf, um die Ware abzuholen. Offenbar hatte die Lautsprecheranlage noch nicht funktioniert. Dass man mir unter solchen Umständen aber das Tellergericht gleich hätte bringen können, darauf kam vom unterbeschäftigten Trio niemand. Ist das unsere legendäre Gastlichkeit? Um auf dem Boden der Wirklichkeit haften zu bleiben, weiss ich solche Erfahrungen immer zu schätzen. Ein zutrauliches Stockentenweibchen mit braun-grau gesprenkeltem Kleid, das mich besuchte, konnte es kaum fassen.
 
Und so liess ich mir das gut geratene Gericht schmecken und zog bald, von der Mittagsmüdigkeit gezeichnet, von dannen. Bis Gelfingen seien es noch 50 Minuten, belehrte mich ein Wanderwegweiser bei der Badi, und er teilte auch gleich die Höhe über Meer mit: 465 m. Ein Mittagsschläfchen hätte gut getan. Allerdings bekam mir auch der Verdauungsspaziergang wohl. Manchmal verlief der Wanderweg an der als angenehm empfundenen Sonne, dann ein Stück weit im Wald oder über ein kleines Rinnsal, wovon eines in einer Ausbuchtung etwas Schaum deponierte, ein anders war ziemlich verschlammt. Was nicht hätte sein dürfen.
 
Doch die Uferlandschaft mit ihrem manchmal fast Auen-ähnlichen Aussehen, den Baumwurzeln, die das Ufer und den Baum befestigen, prägte den positiven Eindruck. Ufergehölze sind gleichzeitig Lebensraum für Insekten, Vögel wie dem Schwarzmilan und Fische sowie ein Erosionsschutz. Sternmieren (Stellária holóstea) streckten mir schneeweisse Blütensterne entgegen. Das Spazieren neben bizarren Ufergehölzen war eine Lust.
 
Im Seefeld entfernt sich der Weg vom See, weil es sich um ein besonders schützenswertes, durchnässtes Naturreservat handelt. Die Schilffläche soll hier wachsen, und die Seeufer werden stabilisiert, um bessere Lebensräume für Pflanzen und Tiere entstehen zu lassen.
 
Nähert man sich Gelfingen, passiert der Weg eine mit Netzen gedeckte und mit Insektenhäusern flankierte Obstplantage. Man tangiert die Seetalbahn-Geleise und ist kurz darauf beim Bahnhof Gelingen. Die Geschichte des Dorfs ist mit jener des oberhalb des Dorfs gelegenen Schlosses Heidegg verknüpft, zumal die Ritter von Heidegg hier das Sagen hatten.
 
Seit dem 01.01.2008 gehört auch Gelfingen zur erweiterten Gemeinde Hitzkirch. In dem rund 77O Einwohner zählenden Dorf leben viele Zuwanderer aus aller Welt. Ich begegnete einem Argentinier, der in Begleitung einer molligen Kubanerin mit kreolischem Einschlag war. Wir unterhielten uns am Lindenbergfuss angeregt über die ausgezeichneten argentinische Weine von den Andenhängen und über das Leben in Kuba. Die Frau hat ihr Herz zwischen Kuba und der Schweiz geteilt und sagte überzeugend, sie tue alles, um sich in der neuen Heimat, wo es ihr gefalle, zu integrieren.
 
Der Gelfinger Bahnhof ist ein Element der Lokalkultur. Und ein paar Hundert Meter Richtung See hat ein Künstler das gleichbleibende Panoramabild auf wetterfestes Aluminium 8 Mal aufgezogen und mit jeweils einer einzigen Farbe in verschiedenen Schattierungen eingefärbt.
 
Bald erschien die im Bug der Lokomotive schockfarbig bemalte Seetalbahn um eine Hausecke, die mich zum Kloster zurückbringen sollte.
 
Ein Gelfinger Bauer mit einem Jauchefass „Agrar“, von einem Traktor gezogen, versuchte in zweifellos gesetzeskonformer Art, seinen Hofdünger loszuwerden. Der See, vom schwachen Wind mit einem wellblechartigen Muster versehen, erstrahlte in einem schönen Türkisblau, eine Vorspiegelung einer heilen Welt, wie wir sie uns wünschen.
 
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