Textatelier
BLOG vom: 24.11.2012

Bräker: Wir armen Männer vom Tockenburg und die Gisliflue

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Die gemeinsame Herkunft verbindet. Wie der Hausierer Ulrich Bräker (1735‒1798), so bin auch ich in Wattwil SG (im Toggenburg) geboren, allerdings 202 Jahre nach ihm; anschliessend wuchs ich im benachbarten Städtchen Lichtensteig auf. Dieses Lichtensteig spielte auch für den „Näppis Ueli“, wie Bräker genannt wurde, eine Rolle. Er wohnte zwar im Weiler „Näppis“ Hochsteig/Scheftenau, Gemeinde Wattwil, war der Sohn eines Schuldenbäuerleins. Doch nachdem der Wattwiler Schulmeister Johann Ludwig Ambühl zufällig darauf gekommen war, dass der Ueli schriftliche Aufzeichnungen machte, meldete er das der Moralischen Gesellschaft im Toggenburg zu Lichtensteig („Societas moralis Toggicca“), deren Mitglied Ambühl war. Ulrich Bräker wurde zu seiner Überraschung in die noble Gesellschaft aufgenommen, durfte deren Bibliothek benützen. Die Bibliothek benützen! Es war für ihn, den armen Mann, der fast ohne Schulunterricht als Ziegenhirt und Knecht aufwuchs und sich sein Wissen selber aneignen musste, eine hohe Ehre, dem gleichen Verein wie Ärzte, Pfarrer, höhere Beamte und reiche Kaufherren angehören zu dürfen und Zugang zu Geschriebenem zu haben. Er selber war ein eifriger Schreiber und wurde vor allem durch seine „Lebensgeschichte und Natürliche Abenthueuer des Armen Mannes im Tockenburg“ bekannt, ohne es allerdings zu seinen Lebzeiten je auf einen grünen Zweig gebracht zu haben.
 
Die Gesellschaft wollte, wie Samuel Voellmy im ausführlichen Vorwort zur dreibändigen, werkgetreuen Ausgabe schrieb, die 1945 im Basler Verlag Birkhäuser erschien, „Bildung und beste Aufklärung auf wirtschaftlichem und allgemein kulturellem Gebiet ins Volk hineintragen“. Allerdings erwies sich (schon damals) nichts als schwerer, „als gegen den Aberglauben, gegen die geistige Versklavung und gegen die moralische Versumpfung anzukämpfen. Die Gesellschaft hatte gegen viele interne Meinungsdifferenzen anzukämpfen, und auch Bräker war ein eigenwilliger Denker, beflügelt von seiner Lese- und Schreibsucht, und so schrieb er auch ,Über Shakespeare’, den er intelligent und verständnisvoll würdigte.“
 
Vor allem Bräkers Tagebücher, die er „Geständnisse“ nannte und die den Zeitraum zwischen 1768 und 1798 umfassen, sind kulturhistorische Zeugnisse von unschätzbarem Wert, hat sich doch die Geschichtsschreibung noch kaum je ausführlich mit dem Dasein des einfachen, gewöhnlichen Volks befasst. Bei Bräker aber findet man Konkretes und Anekdotisches über Menschen und Verhältnisse, wie sie damals waren, ferner Schilderungen zu Wirtschaft und Politik und auch Beschreibungen von seinen ausgedehnten Wanderungen, die er in der Stille der Nächte schönschriftlich festhielt, bis er, an Körper und Geist ermüdet, am 11. Herbstmonat 1798 die Augen für immer schloss und seine Ruhe fand.
 
Im „Historisch-Biografischen Lexikon der Schweiz“ von 1924 liest man, Bräker habe „seine Armut und sein häusliches Missgeschick durch träumerisch-beschauliche Versenkung in sein Inneres und bei emsiger Lektüre zu vergessen“ versucht. In seinen Tagebüchern, die erstmals 1787 gedruckt wurden, offenbaren sich laut dem Lexikon eine „lebhafte Phantasie, ein träumerischer Hang zur Natur, ein ruheloses Gemüt sowie ein seltenes Mass von Kraft, Wärme und Beredtsamkeit“.
 
Das faszinierende Werk „Der Aargau. Eine Landeskunde“ von Charles Tschopp (Verlag Sauerländer, Aarau 1961), hat mich vor längerer Zeit darauf gebracht, dass Bräker einst meinen Wohnort Biberstein durchwanderte, worauf ich im Blog vom 01.01.2008 (Gisliflue-Ausblick: Wo schon Ulrich Bräker fasziniert innehielt) hingewiesen habe. Ab Seite 145 des 3. Bands der Birkhäuser-Ausgabe ist nachzulesen, wie Bräker am 02.10.1793 von Safenwil (Bezirk Zofingen) über Kölliken nach Aarau kam. Nach einem Rundgang durchs Städtchen Aarau stellte er fest: „... ich möchte lieber hier als in Bern wohnen“, und in Aarau besichtigte er „die ungeheure Bandfabrik“ mit ihrem „grossen Vorrat von Seide von allerlei Farben“. An einem Relief, das die ganze Schweiz zeigte, konnte er sich gar nicht sattsehen.
 
Dann wanderte er weiter nach Biberstein, trank im Dorf „ein Schöppchen" und „wandelte den Berg hinan“. Und als er auf der Gisliflue (die er zwar namentlich nicht erwähnt) angekommen war, wurde er von der Aussicht überwältigt; vielleicht trug auch der Wein ein wenig zur euphorischen Stimmung bei. Sicher war es ein Föhntag, der den Alpenkranz in die Nähe rückte, und die Abendsonne sorgte für eine wunderbare Beleuchtung der Szenerie. Die entsprechende Beschreibung habe ich im erwähnen Blog über die Gisliflue bereits zitiert.
 
Gleichentags, bei hereinbrechender Dunkelheit, stolperte Bräker über Schinznach, Umiken bis Bruck (Brugg) weiter; für uns moderne Menschen ist das allein eine Halbtagswanderung. Dort, in Brugg, faszinierte ihn vor allem eine riesige Waage, „wo man ganze geladene Güterwägen bis zu 70 Zentner wiegen kann“.
 
Der geografische Zusammenhang Wattwil/Lichtensteig (Toggenburg) – Biberstein/Gisliflue (Aarau/Brugg) hat mein Interesse am Näppis Ueli vertieft. Der Unterschied besteht darin, dass ich mich in Biberstein festgesetzt habe, Bräker kam nur schnell auf einer Wanderung hier vorbei. Aber unsere Empfindungen sind deckungsgleich: Das Toggenburg, eine hügelige, mit vielen einsamen Tälern, Wiesen, Wäldern, Dörfern, Weilern und Einzelgehöften durchsetzte und von Bergen eingeschlossene Landschaft, ist in sich gekehrt und besitzt eine eigenständige und eigenwillige Kultur, die wie ein überlieferter Schatz gehortet wird.
 
Blickt man anderseits von der südlichsten Falte des Kettenjuras, etwa von Biberstein her, aufs Mittelland hinaus, hat man eigentlich dasselbe, allerdings in wesentlich grösseren Dimensionen vor sich, und der Anteil an Städtchen, Dörfern und Wohn- sowie Industriezonen ist bedeutend grösser. Die Alpenkette als Übergang in den Süden, auch wenn sie bei Föhn erstaunlich nahe zu sein scheint, befindet sich effektiv halt doch weit im Hintergrund. Die Hügel sind über eine aufgeweitete Landschaft verteilt und wirken angesichts des durch die Weite provozierten Verdünnungseffekts milder. Und die Flüsse sind hier mächtiger als die Thur.
 
Beide Landschaftstypen haben ihren Reiz, und eine Wertung, welche nun die schönere sei, wäre ein Unsinn. Uns Menschen des mobilisierten 21. Jahrhunderts sind häufige Landschaftswechsel geläufig; das Reisen ist einfacher, unbeschwerlicher und damit auch oberflächlicher. Man nimmt zur Kenntnis, wie es ist, empfindet etwas als schön, wenn ein Stil, der sich verbreitet hat, zu erkennen ist, eine gewisse Einheitlichkeit also, eine Abgestimmtheit innerhalb des Individuellen. Einen architektonischen Brei, in dem überall Reklametafeln und -sprüche brodeln und vor dem Heimatschützer mit ästhetischem Empfinden die Flucht antreten, nimmt man schon bald einmal als Normalität hin. Man ist abgestumpft, zum oberflächlichen Hinschauen oder Wegschauen gezwungen, weil sich das genaue Hinsehen nicht mehr lohnt.
 
Bei der Lektüre von Beschreibungen grosser Wanderungen aus längst vergangenen Zeiten staune ich umso mehr immer wieder über die detailgenauen Beobachtungen, ermöglicht durch die Langsamkeit der Bewegung, und den tiefen Eindruck, den das rare Neue, das Ungewohnte, hinterliess. Bei den aufmerksamen Menschen von damals ist keine Abstumpfung durch die Überfülle auszumachen. Sie sind wie noch aufnahmefähige Gefässe, die neue Erkenntnisse, neue Bilder, neue Erlebnisse gierig aufsaugen, in sich tragen und davon zehren.
 
Die Hypertrophie, die Überfülle, kann einem im Wege stehen, tiefere Empfindungen verbarrikadieren. Deshalb plädiere ich – insbesondere auch für mich selber – für mehr Bescheidenheit, wie sie zu uns armen Männern vom Tockenburg gehört, ob wir dort geblieben oder ausgewandert sind.
 
Manchmal braucht es etwas mehr von der Bräker’schen Armut, um reicher zu sein.
 
Hinweis aus auf das frühere Blog über Ulrich Bräker
 
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