Textatelier
BLOG vom: 02.01.2013

Bibersteiner Jahresbeginn: Was das Leben von uns erwartet

Autor: Walter Hess, Publizist (Textatelier.com), Biberstein AG/CH
 
„Es kommt nie und nimmer darauf an, was wir vom Leben zu erwarten haben, vielmehr lediglich darauf, was das Leben von uns erwartet.“
Viktor Emil Frankl (1905‒1997)
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Als am Neujahrstag 2013 beim Einnachten etwa 3 Dutzend Personen dem Gemeindehaus in Biberstein AG zuströmten, regnete es in Strömen. Doch immerhin hatte Wolfgang Schulze, der Präsident der örtlichen Kulturkommission, eine Erinnerung an eingeschmolzene Schneeberge mitgebracht. In seiner weisen Ansprache gedachte er der weissen Pracht: „Neulich, an einem Sonntag früh, erwachte ich uns sah mehr als einen halben Meter Schnee vor der Haustür liegen. Mein alter Trick, mit dem Besen den Schnee wegzufegen, half nicht. Ich brauchte eine Schneeschaufel. Und wie durch Feenzauberhand erwachten alle Männer aus der Siedlung, griffen ebenfalls zu ihrer Schneeschaufel und räumten weg, was das Zeug hielt, bis für alle der Weg und die Zugangswege freigeschaufelt waren. Ein Gefühl der Zusammengehörigkeit kam auf: Hier ein Schwatz, dort ein ermunternder Zuruf oder eine schalkhafte Bemerkung, dass der Nachbar auch schon einmal besser ausgesehen habe als an diesem Morgen – unrasiert und mit verschlafenen Augen.“
 
Im beleuchteten Gemeindehaus mit dem strahlenden Uhr-Dachreiter aber erschienen die Dorfbewohner ausgeschlafen und – was die Männer anbelangte – rasiert, beziehungsweise – was insbesondere die Damen betrifft – in sportlich-festlicher Aufmachung, gestählt von den Auf- und Abstiegen am Jurasüdhang. Der Referent, vom langen Dasein als erdverwurzelter Pfarrer rhetorisch versiert, suchte (ähnlich wie beim Schneeschaufeln) nach Tiefgang, nach Tiefsinn, und fand ihn denn auch: „Es sind die kleinen Begegnungen, die spontanen Gespräche im Bus, das Nachfragen, wie es jemand geht. Kleine Hilfeleistungen wirken manchmal Wunder, lassen Eis schmelzen, geben das Gefühl, daheim zu sein, hier an diesem schönen Ort.“
 
Eine Bestätigung lieh sich Wolfgang Schulze, der durch seine gewinnende Art bei den Bibersteinern einen guten Resonanzboden fand, vom österreichischen Psychologen Viktor Emil Frankl aus. Er zitierte: „Im Dienst an einer Sache oder in der Liebe zu einer Person erfüllt der Mensch sich selbst. Je mehr er aufgeht in seiner Aufgabe, je mehr er hingegeben ist an seinen Partner, um so mehr ist er Mensch, um so mehr wird er selbst. Sich selbst verwirklichen kann er also eigentlich nur in dem Masse, in dem er sich selbst vergisst, in dem er sich selbst übersieht.“ Das Zitat stammt aus dem Werk „Das Leiden am sinnlosen Leben“ (Frankl hatte Konzentrationslager-Erfahrung und begründete nach Sigmund Freud und Alfred Adler die „3. Wiener Richtung der Psychotherapie“).
 
Das heutige Leben ist nach den Worten Wolfgang Schulzes von einer „ungeheuren Suche nach Glück“ geprägt, weil täglich Meldungen von Tragiken riesigen Ausmasses unsere Wahrnehmung belasten. Wer solche Meldungen und Suggestionen (manipulative Beeinflussungen) über sich ergehen lassen müsse, stehe da wie ein begossener Pudel und frage sich: Was hat das eigentlich alles mit mir zu tun? Dabei erschütterten die Meldungen aus Syrien den Referenten besonders, da er jenes Land kennt und die Leute im vorderasiatischen Land liebt und schätzt – und jetzt hilflos zuschauen muss, was dort abgeht. Und bei dieser Hilflosigkeit konzentriert man sich eben darauf, was einen unmittelbar angeht.
 
Frankl, der eine enge Beziehung zwischen Selbstverwirklichung, Lebenssinn und Glück sah, kam zu dieser Einsicht: „Je mehr er, der Mensch, nach Glück jagt, um so mehr verjagt er es auch schon. Um dies zu verstehen, brauchen wir nur das Vorurteil zu überwinden, dass der Mensch im Grund darauf aus sei, glücklich zu sein; was er in Wirklichkeit will, ist nämlich, einen Grund dazu zu haben. Und hat er einmal einen Grund dazu, dann stellt sich das Glücksgefühl von selbst ein. In dem Masse hingegen, in dem er das Glücksgefühl direkt anpeilt, verliert er den Grund, den er dazu haben mag, aus den Augen, und das Glücksgefühl sackt in sich zusammen. Mit anderen Worten: Glück muss erfolgen und kann nicht erzielt werden.“
 
In eben diesem Sinne wurden im Gemeindehaus, in dem sich auch der Gemeindeammann Peter Frei eingefunden hatte, viele Glückwünsche ausgetauscht. Das Erheben von Weingläsern sowie der Genuss von Butter- und Speckzöpfen trugen zum Wohlbefinden bei. Und alles war noch schöner als beim Schneeschaufeln: Hier ein Schwatz, dort ein Prosit. Die Kulturkommissionsmitglieder Myrta Lüscher, Ursula Schwarz und René Bircher waren ums Wohl der Gäste besorgt. Drinnen floss der Wein aus einheimischer Produktion, draussen noch intensiver der Regen, der von selbst ablief und nicht weggeschaufelt werden musste. Der Kulturpräsident wünschte, „dass niemand sein Leben trist verbringen muss, sondern dass immer jemand da ist, der zuhören, trösten, ermahnen oder einfach da sein kann.“
 
Am Neujahrstag zwischen 17 und 19 Uhr hat das bei ungetrübter Feierlaune tadellos funktioniert ... und hoffentlich dauert das auch darüber hinaus an.
 
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