Textatelier
BLOG vom: 17.02.2013

Benedikt XVI.: Rücktritt, als epochale Revolution gefeiert

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein AG/CH (Textatelier.com)
 
Medien lieben Kuriositäten. Wenn jemand innerhalb einer Institution zurücktritt, in der Rücktritte unüblich, gar Jahrtausendereignisse und damit Raritäten sind, dann gibt das eine schöne Story. Und dann noch eine.
 
Papst Benedikt XVI. tat den Medien diesen Gefallen am 11.02.2013, auf eine diskrete Weise in der Kirchensprache Latein, eine der Sprachen der Macht. Trotz kleiner grammatischer Schnitzer, die ihm der Allmächtige im Himmel gewiss vergeben wird, verstand die italienische Vatikan-Korrespondentin Giovanna Chirri, was gemeint war, währenddem Kardinäle noch rätselten, ob sie wohl alles richtig verstanden beziehungsweise übersetzt hätten. Falls sie interpretierten, dass der Bischofsitz in Rom ab dem 28.02.2013, 20.00 Uhr, vakant sein werde, lagen sie richtig, auch wenn der Papst noch von der „hora 29“ (29. Stunde) sprach.
 
Inzwischen ist alles bereinigt; die alten Römer hätten an diesem sprachlichen Erguss ihre helle Freude gehabt, darin ihr Wohlgefallen gefunden. Delectari aliqua re. Die unerschütterlich gläubige römisch-katholische Welt aber zeigte sich tief betrübt vom angekündigten Rücktritt. Sie rechnete es dem 85-jährigen, angeblich im Amte übermüdeten Papst offenbar hoch an, dass er die Kirchenstruktur von allen Neuerungen verschont hatte, und offenbar kam auch sehr gut an, dass er die Türen für die Weiber zu den innersten kirchlichen Gemächern weiterhin verschlossen hielt. Dass er den unzähligen priesterlichen Pädophilie-Missbrauchsopfern zwar grosse Heilversprechungen machte, aber in der Praxis nichts für sie unternahm und die Skandale aussass, scheint ganz im Sinne seiner Verehrer zu sein. Auch sein Versuch, diesbezügliche Fakten zu verheimlichen. Und er versuchte, zu verhindern, dass pädophile Priester vor weltliche Gerichte kamen, machte sich zum Komplizen dieser Kriminellen. Das Kirchenvolk verzieh ihm. Und es war vom Mut, der zum Rücktritt führte, hell begeistert, ein revolutionärer Schritt.
 
Eine Kirche, die sich nicht bewegt, die nicht aufgrund jeder Modeströmung oder gar aufgrund jeden Aufsehen erregenden Einzelereignisses in einen Aktivismus verfällt, der ihre Grundfesten erschüttert, erweckt in dieser Zeit der Labilität und Schnelllebigkeit schon Bewunderung, bis hin zu Fragen der Ablehnung von Homosexualität und Geburtenregulierung. So habe ich es jedenfalls beim Studium der Medienberichte zwischen den Zeilen herausgelesen. Alles, was Benedikt XVI. tat, war gut. Sehr gut. Gross. Als er 1990 noch Präfekt der Glaubenskongregation war, bezeichnete er das Urteil gegen Galileo Galilei im Jahr 1633 als „rational und gerecht“. Weil sich nach kirchlicher Ansicht die Sonne um die Erde dreht (geozentrisches Weltbild: Die Sonne geht im Osten auf, im Westen wieder unter) – und nicht etwa die Erde um die Sonne (heliozentrisches Weltbild) – wurde Galilei zum Schweigen und dann zum Widerruf unter Androhung der Folter aufgefordert (es war die Zeit der blühenden Inquisition) und unter Arrest gehalten. Welcher Lehre Joseph Ratzingers Sonne gehorcht, kann man nur erahnen. Ein Aspekt der Glaubensfreiheit auf dieser Erde, übrigens eine Scheibe.
 
Benedikt XVI. war nicht nur ein Bremser, sondern ein Restaurator uralter Strukturen und Doktrinen und vertrieb damit viele Vatikan-Kunden; die Kirchen entleerten sich. Wikileaks (Vatileaks) und Vatikanbank öffneten Augen. Die damit einhergehende Einbusse an Einfluss, an Macht, ist meines persönlichen Erachtens eine positive Begleiterscheinung. Benedikt XVI. weiss genau, in welcher Religion Gott hockt. In einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ sagte der in Brasilien lebende Befreiungstheologe und Schriftsteller Leonardo Boff am 18.04.2010: „Die 5 Jahre seines Pontifikats sind von Konflikten gekennzeichnet: mit den Muslimen, den Juden, den nichtkatholischen Kirchen, denen er den Status als Kirche abspricht, mit der anglikanischen Kirche, den Anhängern Lefebvres, mit den Frauen, den Homosexuellen. Beim Regieren hat er zahlreiche Fehler gemacht. Gemäss den Evangelien ist es seine Aufgabe, die Brüder und Schwestern im Glauben zu stärken. Das gelingt ihm nicht.“ – Jetzt aber, angesichts des bevorstehenden Rücktritts, liest und hört man das pure Gegenteil.
 
Eine seiner herausragenden Leistungen war die weitgehende Ausrottung der Befreiungstheologie, der er marxistische Strömungen unterstellte (die es auch gab) – und welche die Ärmsten unter den Armen in christlicher Nächstenliebe aus der Unterdrückung befreien wollte. Es ging den Befreiern weniger um grosse, abstrakte Philosophien als vielmehr um eine Unterstützung beispielsweise der verzweifelt kämpfenden Landbewohner in Lateinamerika, die von den Todesschwadronen der Latifundienbesitzer niedergemetzelt werden, wenn sie sich ihnen in den Weg stellen. Wo es so viel Not gibt, müsste eine Kirche Mitmenschlichkeit und Hilfsbereitschaft aufbringen können und dürfen. Doch die Kinder Gottes werden auch von dieser Seite lieber ausgenommen als beschützt, woraus sich zum Teil der unermessliche Reichtum der katholischen Kirche begründet. Nach neoliberalen Grundsätzen ein Erfolgsmodell. Der CEO würde mit Millionen vergoldet.
 
Bewusst habe ich dazu meiner Lebtag nichts an Kirchensteuern beigetragen, werde es auch in Zukunft nicht tun – und darf ich auch noch so viel Gutes und Schönes über den abtretenden Papst lesen und hören. Ich habe das Weltgeschehen ohnehin noch nie so richtig verstanden. Es liegt an mir. Der Heilige Geist stand mir nie bei.
 
 
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