Textatelier
BLOG vom: 04.04.2014

Urs Widmer: repräsentativer Schriftsteller seiner, unserer Zeit

Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Beromünster LU, zum Tode von Urs Widmer (1938–2014)
 
Urs Widmer, geboren am 21. Mai 1938 in Basel, also fast genau am ersten Geburtstag von Peter von Matt, verstorben nach schwerer Krankheit in Zürich am 2. April 2014, dem 100. Todestag von Nobelpreisträger Paul Heyse, wurde von Marcel-Reich Ranicki einst als „Weltliterat“ bezeichnet. Vor allem aber war er richtungsweisender Kollege, Orientierungsgrösse für nicht wenige zeitgenössische Autoren, meist Schweizer. Tunlichst vermied er es, sein im Vergleich zu vielen höheres Renommee und seinen bedeutenden Horizont, der ihm ein bewundernswertes Mass an Toleranz ermöglichte, auf „unkollegiale“ Weise auszuspielen.
 
Widmers Prädikat des „Weltliteraten“ war jedoch für den 2013 verstorbenen Star-Kritiker nicht gut genug, um den Autor als besten lebenden Schweizer Schriftsteller nach Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt gelten zu lassen. Dieser Rang kam, zur Relativierung des einheimischen Literaturschaffens um die  und nach der Jahrtausendwende, nach Reich-Ranicki dem Literaturerzähler Peter von Matt zu. Wie dieser und wohl ähnlich wie der vergessene Nobelpreisträger von 1910, Paul Heyse, der sich im Münchner Adressbuch nichtsdestotrotz „Dichter“ nannte, war Urs Widmer ein hervorragender Literat, ursprünglich Lektor im Oltner Walter-Verlag, später bei Suhrkamp in Frankfurt, auch ein ausgezeichneter Übersetzer. Wenn ich Peter Bichsels Würdigung zum Tode seines Freundes richtig verstanden habe, war – nebst dem dramatischen Meisterstück „Top Dogs“ – Widmers Übersetzung von Joseph Conrads „Heart of Darkness“ ein massgebendes Werk heutiger Literatur, nach Einschätzung Bichsels mit dem Titel „Das Herz der Finsternis“ eindrucksvoller als das Original. Ein unerwartetes und ehrliches Kompliment an den Übersetzer. Ist doch ein vergleichbarer Roman wie der genannte in der Schweizer Literatur in den letzten 50 Jahren ‒ ausser vielleicht Frischs „Gantenbein“ und Hermann Burgers „Schilten“ ‒ nicht erschienen.
 
Das Dilemma der Preise
Widmers Erfolgsbuch „Der Geliebte der Mutter“ lebte von den Anspielungen an den Dirigenten und Milliardär Paul Sacher, auch vom Gerücht, dass der Autor dessen Sohn sei, was aber nicht stimmte. Die autobiographische Trilogie, nach dem genannten Werk „Das Buch des Vaters“ und „Das Leben als Zwerg“, beherrschte zu ihrer Zeit die deutschschweizerische Literaturszene, um 2013 vom wohl gültigsten Werk des Autors, seiner Autobiographie „Reise an den Rand des Universums“ abgelöst zu werden. Spittelers Mahnung, nur einen einzigen Roman zu schreiben, nämlich seinen eigenen, kam in diesem Sinn kurz vor Widmers Hinschied zur Realisierung. Dem Autor wurde für diese bedeutende Leistung der Schweizer Buchpreis 2013 vorenthalten, was jedoch gerade noch beizeiten mit dem Schweizer Literaturpreis, seiner letzten Auszeichnung, kompensiert wurde. Vor allem die Nichtnominierung Widmers auf die Vorschlagsliste des Buchpreises schadete dem Ansehen von dessen Jury wie auch dem Ansehen jenes Preises nachhaltig.
 
Privilegierter Bürger
Die Bedeutung Urs Widmers im Vergleich zu ähnlich talentierten Kollegen wie Peter Bichsel, Hugo Loetscher, Jürg Federspiel, Hansjörg Schneider, E.Y. Meyer oder Urs Faes liegt nicht zuletzt in der Repräsentation des gehobenen Bürgertums. Wie wenigen ist es ihm gelungen, die Chancen, aus einem bildungsmässig bevorzugten Elternhaus – sein Vater war ein hervorragender Gymnasiallehrer – und einem privilegierten Umfeld zu entstammen, nicht nur im Sinne besserer Beziehungen genutzt zu haben. Er war wohl – nebst Loetscher – der professionellste Autor unter den genannten. Loetscher, Schneider, Meyer, Faes entstammten durchwegs dem Proletariat oder dem unteren Mittelstand, wohingegen Widmer von Familie und Schule ‒ sein Deutschlehrer war der „Fährmanngeschichten“-Autor Rudolf Graber ‒ wie einst Heyse oder Thomas Mann zu den vergleichsweise Privilegierten gehörte. Und wie Heyse konnte Urs Widmer, ohne sich wie dieser als Dichterfürst aufzuführen, mit jeder Textsorte, die er anpackte, etwas literarisch Hochstehendes, nie nur Mittelmässiges machen. Vielleicht weil er nie unter sein Niveau ging, schlug auch der Blitz des Genies nur zeilenweise ein, am dichtesten vielleicht in der Zeitreise zurück über 50 Jahre, im Roman „Der blaue Siphon“ aus den neunziger Jahren.
 
„Raunen unter einem Mühlstein“
In den Schulen wurde gelegentlich noch „Liebesnacht“ gelesen, Erzählungen nach dem Vorbild von Boccaccio, was es aber im Vergleich zu diesem unerreichbaren Meister so wenig bringen konnte wie früher Paul Heyse, von dem die nach Boccaccio abgeleitete „Falkentheorie“ stammt. Dieser Falke hat sich im neueren Schaffen von Schweizer Erzählern weitgehend verflogen, von deutschen Kitschproduzenten wie Bernhard Schlink, Karl-Heinz Ott und dem späten Martin Walser zu schweigen. Dagegen hielt Urs Widmer auf beeindruckende Weise Kurs. Der Johann-Peter-Hebel-Ton von Bichsel oder von seinem Lehrer Graber blieb ihm dennoch vorenthalten. Er war ein redlicher grossartiger Vermittler, zum Beispiel als Neu-Herausgeber von Gottfried Kellers „Fähnlein der sieben Aufrechten“: ein Text über die Schweiz für solche, die sie nicht oder falsch verstehen. Nicht idealisiert, vielmehr radikal und im kleinbürgerlichen Sinn kapitalismuskritisch wie kaum eine zweite Novelle des Poetischen Realismus. Nach Urs Widmer klingt der Humor von Gottfried Keller wie ein Raunen unter einem Mühlstein. Eine starke Metapher und zugleich ein Bekenntnis.
 
In einem seiner letzten Interviews zeigte sich der Autor erschreckt über die Perspektive, die Schweiz könnte auf 11 Millionen Einwohner wachsen. Dies noch zu erleben, zeigte er sich nicht erpicht. Bei seinen Mitbürgern die Idioten zu zählen, wie der im Vergleich zu ihm höher eingeschätzte Peter von Matt mit Allüren des späten Emil Staiger, konnte ihm vor dem Abgang aus dieser Welt nicht mehr einfallen.
 
Er wäre jedoch nicht der bürgerliche Moralist gewesen, als den er sich verstand, hätte er sich in der anstehenden politischen Entscheidung der Mehrheit seiner Mitbürgerinnen und Mitbürger ausserhalb von Basel und Zürich angeschlossen. In diesem Sinn war er, wie Max Frisch, dessen schwächere Werke er bei weitem übertraf, die stärksten aber nicht erreichte, ein repräsentativer Vertreter des „juste milieu“ der urbanen Schweiz.
 
Grosser Schriftsteller?
Im Nachruf von Radio SRF wurde hervorgehoben, „dass Urs Widmer schon immer als unaufgeregt, besonnen, beliebt, humorvoll und pointiert, kurz: als grosser Schriftsteller galt.“ Unfreiwillig werden hier Eigenschaften guter Dorfschriftsteller, also der kleinen Autoren, auf Urs Widmer übertragen. Gotthelf oder Tolstoi waren nicht so. Ein noch grösserer Autor wie Shakespeare, dessen Dramen Widmer wunderbar nacherzählte, tickte wohl auch nicht auf diese Art. Als Autobiograph seiner Generation wurde Widmer ähnlich repräsentativ wie etwa der ins Chinesische übersetzte, allerdings weit weniger bekannte Arbeiterschriftsteller Karl Kloter und der grosse Intellektuelle Hugo Loetscher, über den Widmer am 28. August 2009 im Grossmünster die Abdankungsrede hielt.
 
Er relativierte den verstorbenen Grossintellektuellen und recherchierenden Weltkenner zu einem „sozial begabten Menschen mit Herz und Verstand, auch für jene, die scheiterten“. Das Urteil traf zumal auf den Redner zu, der sich mit der Stilisierung Loetschers zum „Proleten von Aussersihl“ aus seiner ihm eigenen sozialen Warte äusserte. Genaues gegenseitiges Lesen war und ist unter Schriftstellerkollegen selten. Die Abdankungsrede, welcher die wahre Verabschiedung in der Kronenhalle folgte, blieb dennoch auf ganz andere Weise unvergesslich als die politisch anbiedernden Worte von Bundesrat Moritz Leuenberger, der nicht realisierte, dass es bei der Auseinandersetzung mit einem bedeutenden Schriftsteller nicht um Meinungsübereinstimmung gehen sollte, sondern um die stille Beschämung des Politikers gegenüber Horizonten sogar jenseits der fortschrittlichen Repräsentanten des Bundeshauses. Beschämung dieser Art wäre auch gegenüber Urs Widmer und dem noch lebenden letzten poetischen Mahner ohne Vaterlandspathos, Peter Bichsel, angebracht.
 
Satirische Prophetie
Auf eindrucksvolle Weise ist es Urs Widmer gelungen, mit seinem Gesamtwerk, aber auch als eine der einflussreichsten literarischen Persönlichkeiten des Landes, den Rang eines repräsentativen und gefragten Autors zu erringen und zu behaupten. Mit „Top Dogs“, im Theater am Neumarkt 1996 vom genialen Volker Hesse uraufgeführt, welcher Inszenierung weltweit noch mehr Aufführungen folgten, wurde Widmer, sonst kein Vollblutdramatiker, zum Schöpfer eines der bedeutendsten Zeitstücke der letzten 30 Jahre. Indem Widmer das, was spätestens 2008 als evidentes Phänomen der Finanzwelt sich realsatirisch verwirklichte, schon 12 Jahre zuvor auf die Bühne zu bringen vermochte, brachte er literarische Fiktion zu eindrucksvollster Entfaltung: nämlich dasjenige satirisch-prophetisch vorwegzunehmen, was uns aufgrund durchschaubarer menschlicher Schwächen fast unabweisbar bevorsteht. In seiner Spätzeit fehlte Urs Widmer die Kraft, den genialen Wurf mit einem ebenbürtigen Abgang zu ergänzen. Das Stück „Das Ende vom Geld“ vermochte die Erwartungen, die in die Thematik wie auch in den Autor gesetzt wurden, nicht zu erfüllen.
 
Urs Widmer war ein Autor seiner, unserer Zeit. Hugo Loetscher ist schon beinahe vergessen. Von Widmer werden sich, über die Autobiographie hinaus, nur wenige Werke noch über ein paar Jahre halten. Eine Entdeckung wert scheinen mir frühe Miniaturen wie „Das Normale und die Sehnsucht“ sowie „Das Buch der Alpträume“ mit Illustrationen des 1947 geborenen Comic-Zeichners Hannes Binder. Urs Widmer war ein Meister seiner Epoche, reich an Perspektiven und wie Peter Bichsel auf exemplarische Weise fähig zur Resignation, nicht zu verwechseln mit Aufgeben solange einer atmet.
 
 
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