Textatelier
BLOG vom: 13.06.2014

Ende des übersüssten Lebens: WHO will weniger Zucker

Autor: Martin Eitel, Wissenschaftspublizist, Berlin
 
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat sich erneut für deutlich geringere Richtwerte zum täglichen Zuckerkonsum ausgesprochen. In einem Anfang März 2014 von der UN-Organisation in Genf vorgelegten Entwurf wird der bislang gültige Richtwert auf künftig unter 5 Prozent der täglichen Energiezufuhr reduziert. Derzeit beträgt die Richtgrenze „unter 10 Prozent“. Das macht bei einem normalgewichtigen Erwachsenen mit durchschnittlichem Energieverbrauch rund 50 Gramm Zucker am Tag (rund 12 Teelöffel) aus. Nach dem neuen Vorschlag soll der tägliche Richtwert auf dann 25 Gramm oder rund 6 Teelöffel sinken. Die Empfehlung zur Herabsetzung des Richtwertes für den Zuckerkonsum auf unter 10 % durch die WHO (Weltgesundheitsorganisation) erfolgte vor etwa 10 Jahren im Zusammenhang mit dem Ziel einer gesünderen Ernährung. Die Organisation wies damals darauf hin, man solle nicht mehr als 10 % der Kalorien in Form von Zucker aufnehmen und empfahl der Lebensmittelindustrie, den Fett- und Zuckergehalt in Nahrungsmitteln zu reduzieren.
 
Diese erneute Absenkung des Zuckerkonsums ist aufgrund neuerer Forschungsergebnisse aus gesundheitlichen Gründen dringend erforderlich und unumgänglich.
 
Aktueller durchschnittlicher Zuckerverbrauch
Aktuell soll der durchschnittliche Zuckerverbrauch in Deutschland pro Person bei zirka 100 g, in der Schweiz wohl bei 137 g liegen, wobei aufgrund des wachsenden Anteils von High Fructose Corn Syrup (HFCS) in Fertigprodukten und Getränken (auf den Packungen je nach Zusammensetzung z. B. als Maissirup, Fructose-Sirup, Glucose-Fructose-Sirup oder Fructose-Glucose-Sirup deklariert) eine aktuelle Studie die geschätzten Werte für die westlichen Industrieländer gar auf über 180 Gramm Zucker/Kopf täglich oder rund 67 Kilogramm pro Kopf/Jahr nach oben korrigiert hat. Der Ersatz von Zucker durch High Fructose Corn Syrup hat im Wesentlichen wirtschaftliche Hintergründe. HFCS ist einerseits billiger, andererseits süsser als gewöhnlicher Zucker aus Zuckerrohr oder Zuckerrüben. Nach neueren Erkenntnissen ist der Glucose-Fructose-Sirup noch ungesünder als der ohnehin schon ungesunde gewöhnliche Zucker.
 
Zucker und HFCS sind in einer grossen Anzahl vor allem industriell hergestellter Nahrungsmittelerzeugnisse enthalten und fast allgegenwärtig. Das fängt bei Aachener Printen (Lebkuchensorte) an, geht über Fertig-Pizzen und Tütensuppen und reicht bis zu Zuckerwatte.
 
Gesundheitliche Folgen des Zuckerverbrauchs
Hintergrund für die neue Empfehlung sind die gesundheitlichen Folgen, die mit dem Zuckerkonsum in Verbindung gebracht werden. Zu unterscheiden ist dabei allerdings zwischen dem Konsum von Zucker in Form von ganzen Früchten, also z. B. in Form eines ganzen Apfels oder einer ganzen Banane, die grundsätzlich empfehlenswert sind, weil sie neben Fruchtzucker Vitamine, sekundäre Pflanzenstoffe, Ballaststoffe etc. enthalten, und von Zucker in Industrienahrungsmitteln, denen Zucker zugefügt wurde.
 
Zucker kann die folgenden Symptome auslösen oder an deren Entstehung beteiligt sein: Unerklärliche Müdigkeit,  Antriebs- und Energielosigkeit, Depressionen, Angstzustände, Magen- und Darmprobleme wie Völlegefühle, Blähungen, Durchfall, Verstopfung, Haarausfall, Hautkrankheiten, Pilzbefall, Nervosität, Schlafstörungen, Konzentrationsschwäche bis hin zu geistiger Verwirrtheit, u. a. zu Krebs. Was von besonderem Interesse ist: Der Körper wird anfällig für „Infektionskrankheiten“. Sein Immunsystem ist am Boden und nicht mehr fähig, den Körper angemessen zu schützen. Zudem gibt es deutliche Hinweise auf einen Zusammenhang mit Karzinomen (Krebserkrankungen, die von Zellen im Deckgewebe von Haut oder Schleimhaut ausgehen).
 
Urteil: Zucker darf als Schadstoff bezeichnet werden
Folgerichtig hatte das Hanseatische Oberlandesgericht in Hamburg schon vor mehr als 25 Jahren einer deutschen Verbraucherschutzorganisation in seinem Urteil vom 29.10.1987 (3 U 11/87; Vorinstanz: 74 0 235/86 LG Hamburg) in dem Rechtsstreit gegen die Wirtschaftliche Vereinigung Zucker, in der sich Zuckerfabriken und Raffinerien, Unternehmen des Zuckerimport- und Zuckerexporthandels sowie Verbände von Zuckerrübenbauern zusammengeschlossen haben, erlaubt, nach den von ihr vorgelegten umfangreichen Belegen davor zu warnen, dass im Zucker ein nicht zu vernachlässigendes gesundheitliches Gefährdungspotential steckt. Das für sie daraus fliessende, an der Volksgesundheit orientierte sachliche Anliegen verliess die Verbraucherorganisation nach Ansicht des Gerichts noch nicht, wenn sie für Zucker in der angegriffenen Weise den Begriff „Schadstoff“ verwendete.
 
Karzinom-Zelle und Warburg-Effekt
Schon in den 1920er- Jahren haben Otto Warburg und seine Kollegen Posener und Negelein in ihrem grundlegenden Beitrag unter dem Titel „Über den Stoffwechsel der Carcinomzelle“ die unterschiedliche Energiegewinnung in gesunden und in Karzinomzellen verglichen. Dieser sogenannte Warburg-Effekt ist in den letzten Jahren mehrfach untersucht und bestätigt worden. Der 1931 mit dem Nobelpreis geehrte Biochemiker hatte schon in den 1920er-Jahren die Beobachtung gemacht, dass Krebszellen einen ganz eigenen Stoffwechsel haben: Während gesunde Zellen den ihnen zur Verfügung stehenden Zucker unter Verbrauch von Sauerstoff bei der sogenannten Zellatmung vollständig zu Kohlendioxid (CO2) verbrennen, gewinnen Tumorzellen Energie, indem sie den Zucker zu Milchsäure vergären. Dies ist selbst dann der Fall, wenn genügend Sauerstoff zur Verfügung steht.
 
Auf der Nobelpreisträger-Tagung in Lindau 1966 machte Warburg einen neuerlichen Versuch, den Fachkollegen die Augen zu öffnen:
 
Sauerstoffgas, Energiespender in Pflanzen und Tieren, ist entthront bei Krebs und durch eine andere Form der Energiegewinnung, nämlich die Fermentation der Glukose, ersetzt (...).
 
Aber niemand kann heute behaupten, dass man nicht sagen kann, was Krebs ist und was seine primäre Ursache. Im Gegenteil, es gibt keine Krankheit, deren Ursache besser bekannt ist.
 
Unwissenheit kann heute nicht länger als Entschuldigung dafür dienen, dass man nicht mehr für die Prävention tut. Dass die Prävention gegen Krebs kommen wird, daran gibt es keinen Zweifel, da die Menschen überleben wollen. Aber wie lange die Prävention versäumt wird, hängt davon ab, wie lange die Propheten des Agnostizismus fortfahren werden, die Anwendung der wissenschaftlichen Erkenntnisse auf dem Gebiet der Krebsforschung zu verhindern.
 
Neuere Forschungsergebnisse
Nachdem im Beitrag von Heinz Scholz unter dem Titel „Lähmt Zucker das Denkvermögen?“ am 30.12.2004 über die damalige Empfehlung der WHO zur Herabsetzung des Zuckerkonsums auf unter 10 % der Kalorienmenge berichtet worden war, haben nun neuere Forschungsergebnisse eine erneute Herabsetzung auf unter 5 % nahe gelegt.
 
Mehr als 50 Jahre nach der Aussage von Otto Warburg in Lindau machten jetzt Wissenschaftler der Charité-Universitätsmedizin Berlin und des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin (MDC) in Berlin-Buch zusammen mit weiteren Kooperationspartnern aus Deutschland die neue Entdeckung, dass durch Hemmung ihres Energiestoffwechsels ruhende Tumorzellen selektiv vernichtet werden können. Nach den Erkenntnissen von Warburg und Kollegen ist das nicht gerade überraschend.
 
Eine neue wissenschaftliche Untersuchung von Wissenschaftlern des University College London (UCL), die in der Zeitschrift Nature Medicine veröffentlicht wurde, hat es bestätigt: Industriell verarbeiteter Zucker gehört zu den wichtigsten Faktoren für Wachstum und Ausbreitung von Krebstumoren. Die UCL-Studie ist nicht die einzige, bei der eine Verbindung zwischen dem Verzehr von industriell verarbeitetem Zucker und Krankheiten wie Krebs nachgewiesen wurde. Andere Untersuchungen, wie beispielsweise eine laufende Studie von Dr. Robert H. Lustig, Professor für Kinderheilkunde an der Abteilung für Endokrinologie der University of California, San Francisco (UCSF) bestätigen, dass die meisten der heutigen chronischen Krankheiten auf den Zuckerkonsum zurückgeführt werden können.
 
Das bestätigt die Erkenntnis, dass ein grosser, wenn nicht der überwiegende Teil der heute vorherrschenden Krankheiten lebensstilbedingt ist und der einzelne Konsument in erheblichem Umfang selbst seinen Gesundheitszustand beeinflussen kann. Die wichtigste Möglichkeit zur Erhaltung und ggf. Wiederherstellung der Gesundheit liegt also durch die Wahl des Lebensstils beim einzelnen Konsumenten selbst und nicht im Konsum irgendwelcher Pillen, Säfte und Spritzen der Pharma-Industrie.
 
Was den Krebs angeht, so füttern die Hormone, die der Körper als Reaktion auf den Zuckerverzehr bildet, auch Krebszellen. Das heisst: Jedes Mal, wenn man eine zuckerhaltige Limonade trinkt oder ein Stück Kuchen verzehrt, produziert der Körper bestimmte chemische Substanzen, die Krebszellen melden, nicht nur den Zucker aufzunehmen, sondern zu wachsen und sich im Körper zu verbreiten.
 
„Wir begreifen allmählich, dass Insulin in bestimmten Gewebearten negative Wirkungen entfalten kann, besondere Sorge bereitet uns dabei Krebs“, sagt Dr. Lewis Cantley, Chefarzt des Beth Israel Deaconess Medical Center (BIDMC) an der Harvard University, in einem Interview der Sendung „60 Minutes“ des US-Fernsehsenders CBS.
 
Wichtigste Empfehlung: Natürliche statt industriell verarbeitete Nahrung
Nach allem ist die WHO-Empfehlung zur Reduktion des Zuckerkonsums folgerichtig und dringend geboten, selbst wenn die Lebensmittelindustrie auf die Barrikaden gehen sollte. Der einzelne kann sich sehr gut und auch recht einfach vor einem zu hohen Zuckerkonsum schützen. Die erste und wichtigste Regel, die nicht nur der Gesundheit förderlich ist, sondern auch den Geldbeutel massiv entlastet, heisst: Verzicht auf industriell verarbeitete Nahrungsmittel. Diese nützen zwar den Aktionären der Unternehmen, die sie produzieren, nicht aber der individuellen Gesundheit der Konsumenten.
 
Die neue Zucker-Empfehlung der WHO ist ganz sicher Prävention im Sinn der Forderung von Otto Warburg aus dem Jahr 1966.
 
 
Quellenangaben
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
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