Textatelier
BLOG vom: 02.08.2014

„I gone i d’Stadt“: In Baden AG bitte den Kopf behalten

Autor: Pirmin Meier, Historischer Schriftsteller, Beromünster LU
 
Nachfolgend ist P. Meiers Ansprache an der Bundesfeier 2014 in Baden CH im Wortlaut abgedruckt. (TXA)
 
 
Lieber, hochgeschätzter Herr Stadtammann Geri Müller, mein liebes Volk aus Baden und Umgebung!
 
Baden ist eine Stadt der Feste. Vor 700 Jahren war die Walpurgisnacht auf Schloss Stein für die Ritter und Damen rund um den König Albrecht ein schönes Fest mit Essen und Trinken und Turnier. Also der 1. Mai und nicht der 1. August. Später war es die Cordulafeier. Um 1848 haben unsere Vorfahren den Bundesstaat nicht gross gefeiert, dafür der ersten Spanischbrötlibahn zugewinkt. Das war nicht an einem 1. August, sondern am 7. August, und zwar schon 1847.
 
Als es noch nicht so viele Feste gab wie heute, kam oberhalb des Landvogteischlosses das Volk zu Hinrichtungen zusammen. Nicht nur aus Neugier und Sensationslust. Nein. Bei Hinrichtungen wurden nämlich an alle Kinder und alle Armen, auch Bettler, Brötli verteilt. Das waren noch keine Spanisch-Brötli. Auch bei Beerdigungen wurden Brötchen verteilt. Der Badener „Chrüzlibueb“ trug das Grabkreuz, zuvorderst beim Trauerzug. Der letzte Badener Chrützlibueb ist vor einem Monat verstorben. Ihr Mitbürger Klaus Streif, Redaktor in Baden, eine Zeitlang Badener Brötli-Meister.
 
Die Sage von der St. Anna-Kapelle
Ich stamme von Würenlingen AG. Bei meinen älteren Brüdern war noch eine Hebamme aus dem Dorf im Einsatz. Ich aber bin in Baden auf die Welt gekommen. Im alten Bezirksspital. Dort stand früher das Siechenhaus, wo die Leprakranken oder Aussätzigen isoliert wurden. Ins Dorf Wettingen war es noch zehn Minuten zu Fuss. Neben dem Siechenhaus stand die St.-Anna-Kapelle. Sie steht jetzt noch an ihrem Platz. Dort bin ich getauft worden. Die St.-Anna-Kapelle gehört wie der Teufelskeller zu den alten magischen Orten und Plätzen der Stadt Baden.
 
Die Kapelle steht nicht einfach zufällig dort. Sie wurde etwa 80 Schritte vom ehemaligen Galgen erbaut. Beim Galgen wurde nicht nur gehängt. Im Gnadenfall auch geköpft. Zum Beispiel ein Leonti Meier aus Würenlingen. Ein nicht voll zurechnungsfähiger junger Mann. Er hat in Würenlingen das Haus meines Ur-ur-urgrossvaters angezündet und so den Dorfbrand von 1790 ausgelöst. Auf der Richtstätte wurde einmal einer ganz unschuldig geköpft. Zum Beweis dafür hat der Mann dann den Kopf in die Hand genommen, ist noch 80 Schritte in Richtung Wettingen „gelaufen“. Wo er tot umgesunken sein soll, hat man 1486 die St.-Anna-Kapelle gebaut.
 
War der Marsch des Geköpften eine Einladung an Wettingen, sich endlich mit Baden zu fusionieren? Eher nicht. Die Wettinger Isolationisten haben 1847 in ihrem Dorfkern nicht einmal einen Bahnhof gewollt. Dort, wo jetzt ihr Bahnhof steht, war damals weit und breit Feld und Wiese mit Lerchengesang. Auch in Spreitenbach und Würenlingen wollte man keinen Bahnhof, oder wenn schon, dann mindestens einen Kilometer vom Dorf entfernt. Die Eisenbahngegner haben so unfreiwillig eine bahnhofnahe Industriezone gegründet. Ein Beispiel, wie Konservative zum Fortschritt beitragen, so wie die Fortschrittlichen wegen Übereifer den Fortschritt oft behindern. Der Fortschritt geschieht nach dem Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel unfreiwillig. Er kommt regelmässig anders, als die „Stürmi“ wollen. Aber auch anders, als diejenigen, die gegen alles sind. In Wettingen war auch die Hochburg der AHV-Gegner. Der Stadtammann von Baden, Ständerat Karl Killer, hat dafür gekämpft.
 
Dass Fusionen nicht gleich zustandekommen, und wenn, dann erst im 2. oder 3. Anlauf, erheischt Verständnis. Die Eigenständigkeit von Dorfgemeinden ist keine Kleinigkeit. Von Neuenhof will ich jetzt nicht berichten. Laut einem früheren aargauischen Staatsarchivar soll dort nie etwas historisch Wichtiges vorgefallen sein. Ähnliches gilt für meine frühere Wohngemeinde Ehrendingen. Diese hat sich um 1825 wegen dem Armenwesen in Ober- und Unterehrendingen getrennt, vor ein paar Jahren wieder fusioniert. Die Kirche steht wieder mitten im Dorf, zwischen Höhtal und Surbtal. Ennetbaden ist im Vergleich zu Ehrendingen eher ein Stück Stadt. Mit typisch städtischem Abstimmungsverhalten und wenigstens noch einer richtigen Beiz.
 
Was eine Stadt aus volkskundlich-historischer Perspektive ist
Wer ein Dorf verstehen will, muss wissen, was eine Stadt ist. Das gilt auch für die alte Eidgenossenschaft. Ehrlich gesagt, hat der Bund zwischen Uri, Schwyz und Nidwalden von 1291, ein reines Landfriedensbündnis, erst durch den Beitritt der Stadt Luzern politische Bedeutung erhalten. Die Stadt Luzern war der wichtigste Markplatz, und ohne Luzern hätte es zu jener Zeit und später keinen Verkehr zum St. Gotthard gegeben. Also keine alte Schweiz. Ohne Stadt keine Eidgenossenschaft! In der Stadt hat man sich auch Hellebarden und Panzerhemden angeschafft, oder zum Beispiel Feuerwehrkübel zum Löschen und anderes mehr. Auch Schmuck für die Frau Landammann. Wenn Frau Winkelried sagte: „Jetzt gehe ich in die Stadt“, meinte sie Luzern.
 
Für den östlichen Aargau spielt Baden seit vielen hundert Jahren eine vergleichbare Rolle wie Luzern für Stans und Sarnen. „I gone i d’Stadt“ hiess in Wettingen, Würenlos, Fislisbach, Birmenstorf, Siggenthal, Würenlingen: „I gone uf Baade“. Nicht: „Uf Bade“. Auch zur Zeit der Villmergerkriege, wo hier zum Teil über Krieg und Frieden entschieden wurde. 1714 sogar international der Friede von Baden geschlossen zwischen dem Reich, Frankreich und Spanien. Ein Beispiel für die schweizerische Neutralität.
 
„I gone i d‘ Stadt“ hiess zur Zeit, da ich noch ein Bub war: Zum „Laube & Gsell“ den ersten Anzug zu kaufen, und zwar für die Erstkommunion. Einen Füllfederhalter in der Papeterie Höchli. Oder die erste Brille bei „Schaich Optik“. Oder Schuhe beim „Dosenbach“. Oder ein spannendes Buch in der Buchhandlung „Doppler“. Oder ins Theater. Das Zelt des Zirkus Knie stand auf dem Schadenmühleplatz. „I gone i d’Stadt“ hiess in den häufigsten Fällen: I gone is „Dynamo“ go schaffe, wie die Firma Brown Boveri früher genannt wurde, heute ASEA-Brown-Boveri. „I gone i d’Stadt“ war auch politisch. Am Wahltag ging man aufs Bezirksamt um zu schauen, wer in den Grossen Rat gewählt worden war.
 
Noch gut erinnere ich mich an die Einweihung des Kinos Linde, unterdessen abgebrochen, mit dem Film „Ben Hur“. Ein unvorstellbarer Kino-Erfolg von Regisseur William Wyler aus Endingen. Nicht zu vergessen den Cup-Match FC Baden gegen Servette Genf 3:4 nach Verlängerung. Der Match fand auf Wettinger Boden statt. Damit sind wir beim Thema „Grösse der Stadt“.
 
Vor 300 Jahren war Genf mit 24 000 Einwohnern eine so grosse Stadt, dass sie für die Eidgenossenschaft zu gross war. Zürich, Bern und Basel hatten weniger als 10 000 Einwohnerinnen und Einwohner. Wir sehen also: die Grösse einer Stadt ist relativ. Eines war aber klar. Ohne Stadt geht es nicht. Wirtschaftlich, gesellschaftlich, kulturell und politisch hatte und hat die Stadt eine unentbehrliche Funktion.
 
Man lebte auch in den Dörfern nicht auf Bäumen, hatte eigenes Handwerk. Aber die Handwerker waren auf die Stadt angewiesen. Zum Beispiel die Metzger, meine Vorfahren, und natürlich erst recht die Bauern. Der Schlachthof Baden, unter Stadtammann und Ständerat Killer ausgebaut, spielte eine grosse Rolle. Ein lebendiges und dynamisches gesellschaftliches, wirtschaftliches und politisches Leben ist auf ein funktionierendes Zusammenspiel von Stadt und Land angewiesen. In der Schweiz wissen wir gut genug, dass wir kein Wien brauchen, wohin die Habsburger von Baden weggezogen sind. Wir haben auch kein Berlin und kein Mexico City. Die Gemeinschaft von Stadt und Land in der Schweiz bedeutet, auch im Aargau: Es gibt viele kleinere Zentren.
 
Städtische Politik im Zeichen des Fortschritts
Als Gastredner steht es mir nicht an, Ihnen in Baden zu sagen, was politisch richtig sei. Ich muss auch nicht einem Selberdenker wie Geri Müller den Schmus machen. Ich freue mich aber darüber, dass Baden in den letzten 100 Jahren von Stadtammännern geführt wurde, welche die Stadt weitergebracht haben. Unvergessen ist mir von hier der legendäre Stadtmax, Stadtammann Max Müller, in dessen Amtszeit die wichtigste Verkehrssanierung in der Geschichte der Stadt gefallen ist.
 
Dass wir in Baden sozialdemokratische, liberale, liberalkonservative (CVP) und mit Geri Müller der Tradition des TEAM 67 und der Grünen verpflichtete Stadtammänner hatten, spricht für politische Vielfalt. Rechts oder links ist weniger massgebend. Hauptsache, man geht, wenn möglich vorwärts. Nicht verboten ist Rundumblick, inklusive Rückblick: Zukunft braucht nämlich Herkunft. Dabei ist beim Handeln der richtige Zeitpunkt nicht zu verpassen. Das gilt nach Meinung des Stadtammanns für die Planung von Schulraum, für die Wohnbaupolitik, Verkehrspolitik und für sinnvolle Fusionen.
 
Ein Rückblick auf die Eidgenossenschaft, auf Baden ist nur sinnvoll mit einem ebenso raumgreifenden Vorausblick. Der letzte Chrüzlibueb ist gestorben, leider auch die Chrüzliberg-Wirtin Franca Donelli, ein Beispiel, wieviel Migrantinnen und Migranten hier zum Heimatgefühl beitragen.
 
Direkte Demokratie als Gradmesser
Baden war eine Stadt. Baden ist heute erst recht eine Stadt. Baden soll morgen eine Stadt bleiben. Wer will, dass das Gute bleibt, muss bereit sein für Neues. Anders gesagt: Wenn Baden als habsburgisches und eidgenössisches Verwaltungszentrum eine Stadt war und heute eine Stadt ist, muss es sich rüsten, auch morgen eine Stadt zu sein. Dazu sind die richtigen Massnahmen und Perspektiven nötig. Es genügt nicht zu sagen: Wir brauchen neue Rezepte. Nötig ist Glaubwürdigkeit. Dafür ist die direkte Demokratie ein guter Gradmesser. Auch in den Nachbargemeinden.
 
Fusionen sollen keine faulen Lösungen sein. Der Weg des geringsten Widerstandes hilft niemandem. Es müssen Wege gefunden und gewiesen werden, wie Baden auch als etwas grössere Stadt, sicher nicht „Grossstadt“, eine Gemeinschaft bleibt. Nicht bloss eine „Société anonyme“, wie man auf französisch für eine Aktiengesellschaft sagt. Wenn also Baden eine Stadt bleiben will, muss es bereit sein, vereint mit seiner Region zu neuen Ufern aufzubrechen.
 
Aus dem Geist der Demokratie wird das gelingen. Aus Solidarität mit Wettingen, dem langfristig wichtigen Partner, empfehle ich Ihnen, den Schweizerpsalm als unsere Hymne nicht leichtfertig aufzugeben. Die Melodie ist ein Wettinger Kirchenlied von Pater Zwyssig. Nicht das Vaterland sollen wir lieben, stand im Urtext (Diligam te domine), Gott sollen wir lieben. Nach dem Basler reformierten Theologen Karl Barth heisst das nur: Wir brauchen keine Götzen. Z. B. keinen Nationalismus, wie in der französischen Hymne und in der russischen Hymne fanatisch beschworen, erst recht nicht sowas wie die alte deutsche mit imperialer Geographie „von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt“.
 
In dem Sinn wünsche ich der Stadt, ihren Bürgerinnen und Bürgern und ihrer Führung für die künftigen Aufgaben eine glückliche Hand bei klarer Orientierung. Behalten Sie den Kopf und schauen Sie vorwärts! Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen einen gesegneten Bundesfeiertag.
 
 
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