Textatelier
BLOG vom: 23.01.2015

Die Anlegernöte, das UBS-Einmaleins und die Draghi-Billion

Autor: Walter Hess, Publizist (Textatelier.com), Biberstein AG/CH
 
 
Währenddem in der grossen, weiten Schaum- und Traumsphäre der Finanzen die Stürme wehten, liessen sich Anleger der UBS aus dem Raum Aargau am Abend des 21.01.2015 in der Berufsschule Lenzburg am westlichen Fuss des Schlosshügels zu Profis im Umgang mit ihrem Ersparten ausbilden. Natürlich waren sie alle vom abrupten Entscheid der Schweizerischen Nationalbank SNB unter der Leitung von Thomas Jordan kalt erwischt worden. Dieser Passus in der Broschüre „Das 1 × 1 des Anlegens“ erschien angesichts der Turbulenzen wie eine Faust aufs blaue Auge: „Wichtig ist, der einmal gewählten Strategie treu zu bleiben. Machen Sie nicht jeden Trend mit, sonst dürfen Sie sich nicht wundern, wenn der Anlageerfolg ausbleibt. Haben Sie Geduld …“
 
Fast wie in einem militärischen Weiterbildungskurs wurden wir beim Schlucken der Beruhigungspillen von Anlagespezialist Damir Fodor, eine sympathische, vertrauenswürdige Erscheinung, aufgerufen, dem Wechselbad der Gefühle zu entsteigen und Disziplin walten zu lassen, mithin keine überstürzten Anlageentscheidungen zu fällen. Leider konnte ich es nicht verhindern, dass in meinem noch immer lernfähigen Gehirn Erinnerungen an jenen 15.01.2015 auftauchten, als die SNB, entgegen allen vorangegangenen, gegenteiligen Beteuerungen, den während über 3 Jahre lang durchgezogenen Unsinn der Euro-Stützung bei 1.20 CHF zusammenbrechen liess und damit ein unbeschreibliches Chaos auf den vernetzten Finanzmärkten anrichtete. Der Leitindex SMI brach an der Zürcher Börse bis um 14 % ein, ein historisch einmaliges Ereignis, und versuchte dann alles, sich wieder etwas hochzuräppeln. Der Chefökonom und Chief Investment Officer der UBS Schweiz, Daniel Kalt, sagte damals: „Ich stehe unter Schock; das ist starke Medizin.“ Immerhin hat er die Schockstarre seither so weit überwunden, dass er am erwähnten UBS-Anlass in Lenzburg sein schon vorher angekündigtes Referat „Wirtschaftsausblick 2015“ halten konnte. Der gross gewachsene, gertenschlanke Fachexperte machte zugegebenermassen schon einen etwas mitgenommenen Eindruck.
 
Daniel Kalt kam nicht umhin, dieses Stütz-Ereignis an den Anfang seines Referats zu stellen, auch wenn in der Berufsschulaula darüber alle im Bilde waren. Kalt sprach mit leidender Miene und noch markanter heraustretenden Backenknochen von „Anpassungsschmerzen“. Einen guten Rat hätte er im erwähnen „1 × 1 des Anlegens“ finden können: „Lassen Sie sich nicht in den Bann der Gegenwart ziehen, sondern denken sie langfristig“. Und dennoch hatte uns die Gegenwart eingeholt.
 
Mir schien, dass der Ökonom besonnen genug war, sich nicht auf die brüchigen Äste des Prognose-Baums hinauszuwagen, woraus zu erklären ist, dass sich der angekündigte Ausblick zu einem Rückblick verkehrte, vor allem die Zeit zwischen 2000 und 2014 betreffend. In diesen Jahren entwickelten sich die Schweizer und Amerikaner-Aktien recht gut, während die Motoren in der EU-Zone stotterten. Die Verschuldungen in den einzelnen EU-Ländern sind hoch: Italien 130 % des Bruttoinlandprodukts (BIP), wobei nach den Maastricht-Kriterien als krank zu bezeichnen ist, wer es über 60 % bringt. Japan, das sich mit einer späten wunderbaren Geldvermehrung aus der Krise herauszog, ist auf 230 % hinauf geklettert. Für Anleger ergibt sich daraus die Lehre, dass sie Klumpenrisiken vermeiden sollten. Sie ergibt sich auch daraus, dass viele Staatsanleihen zu „renditelosen Risiken“ wurden.
 
Anlegerfallen
Viele Fallen verlocken die Anleger, hinein zu trampen. So kaufen sie gern, wenn sie in eine euphorische Stimmung geraten sind, bei Höchstpreisen, und bei Depressionen verkaufen sie bei Tiefstpreisen. Diese Trampel trösten sich dann mit „selbstwertdienlichen Verzerrungen“ über ihre Fehlentscheide hinweg: Allfällige Erfolge begründen sie mit Können, Verluste aber rechtfertigen sich mit Pech.
 
Die Finanzmärkte sind so riesig, dass niemand den Überblick haben kann. So gibt es laut Fodor beispielsweise 200 000 kotierte Obligationen, wovon 1500 in der Schweiz und etwa 45 000 börsenkotierte Unternehmen weltweit … usw. Und dennoch wurden wir Anleger aufgerufen, unser Verhalten periodisch zu überprüfen:
A) Analyse; B) Strategie und C) Disziplin.
 
Doch schon hier spüre ich gewisse Zielkonflikte heraus: Disziplin und Festhalten an einer Strategie stehen im Widerspruch zur Notwenigkeit des kritischen Verfolgens des politischen und wirtschaftlichen Geschehens; man soll man sich davon ja nicht beirren lassen. Der Rayonleiter Aargau West, Heinz von Arx, hatte in der Begrüssungsansprache gesagt, der jetzige Zeitpunkt sei für eine Überprüfung des Portefeuilles ideal. Dabei stellten sich Fragen, wie es mit dem Euro weitergehe oder welches Ergebnis die unmittelbar bevorstehenden Wahlen in Griechenland zeitigen werden. Denn sollte die Linkspartei Syriza als Wahlgewinnerin hervorgehen, drohen ein Schuldenschnitt für Griechenland und eventuell Griechenlands Austritt aus der Eurozone.
 
China spielt vorne mit
Mir schien, dass China in den Anlageempfehlungen unterschätzt wurde; als „Schwellenland“ dürfte man diese Wirtschaftsgrossmacht, die den Vergleich mit den USA nicht zu scheuen braucht, nicht mehr bezeichnen. China fällt auch durch ein unverändert hohes Reformtempo auf. Am Montag, 19.01.2015, haben die Chinesische Zentralbank und die SNB eine verheissungsvolle Zusammenarbeit beim Renminbi-Handel unterzeichnet. Am WEF in Davos erklärte Chinas Ministerpräsident Li Keqiang, der durch seine grosse Kompetenz in Wirtschaftsfragen auffällt:„Wir sind gewillt, die Schweiz zu einem der Zentren für das grenzüberschreitende Renminbi-Geschäft zu machen." Russland wurde am UBS-Finanzanlass ausgeklammert, eine Unterlassungssünde.
 
Warten auf Draghi
Da zuverlässige Propheten eine rare Spezies sind, wie ich beifügen möchte, wird man mit seinen Anlageentscheiden am besten etwas zuwarten, bis wenigstens einige vorläufige Resultate auf dem Tisch liegen. Das Sparbüchlein ist geduldig. Die Zeit bis zum Entscheid der Europäischen Zentralbank EZB, die tags darauf von weiter geöffneten Geldschleusen erzählen wollte, füllten wir mit einen „Apéro riche“ aus; ein „Apéro pauvre“, wie er besser zu diesen verlustreichen Zeiten gepasst hätte, gehört nicht auf die Speisekarte einer mitleidenden Bank. So stärkten wir uns im opulenten Berufsschulhaus an Lachsbrötchen, kleinen Bratwürstchen, Crevettensalat mit 2 Schnittlauchhalmen, von einer Specktranche umwickelten Zwetschgen, Mini-Crèmeschnitten und einem Schluck Orangensaft oder Wein, komme, was da kommen möge. So gesättigt, bestand die Gewähr, dass wir Anlageschüler noch ein paar Tage werden durchhalten können.
 
Der Schleusenwart in Aktion
EZB-Präsident Mario Draghi (67) lavierte inzwischen auf den Spuren der US-Fed bereits an den Finanzschleusentoren herum, und man wusste, dass am Donnerstag, 22.01.2015, um 14.30 Uhr bekannt gegeben würde, wie weit sie geöffnet werden, ob also die EZB-Geldpolitik locker oder ultralocker sein würde, und welche Kaufentscheide er, Draghi, für Euro-Staatsanleihen gefasst hatte. Das Zinssenkungspulver ist schon längst verschossen. Die SNB hatte sich im letzten Moment noch in Sicherheit gebracht, zumal der Euro von zusätzlichen Schwächeanfällen heimgesucht werden könnte.
 
Das Resultat: Die Geldflut kommt ultralocker und wellenweise: Die EZB wird ab März 2015 bis mindestens Ende September 2016 monatlich für 60 Mrd. € Staatsanleihen und andere Wertpapiere aus den Euro-Länder aufkaufen (Programm: „Quantitative Easing“, auch „dicke Bertha“ genannt). Das wären 1.14 Billionen Euro und liegt über den Erwartungen. (Zum Vergleich: Für die Euro-Stützung warf die SNB gegen 300 Mia. CHF hinaus.) Das Draghi-Programm soll laufen, bis sich die Inflation nachhaltig an eine Rate von 2 % angepasst hat. Das soll ein Damm gegen ein weiteres Abrutschen der Wirtschaft im Euroraum sein.
 
Kritiker der Massnahmen Draghis sprechen von einem „ultimativen Sündenfall fürs Eurosystem“ und befürchten, dass die Flut an Liquidität die Reformen den maroden EU-Ländern (insbesondere Frankreich, Italien und Spanien) als weniger wichtig erscheinen lassen und dass dort die Geldschwemme dem Bemühen um Normalität im Wege stehen wird. Zu einem Rohrkrepierer könnten die Massnahmen auch deshalb werden, weil nichts darauf hin deutet, dass die Banken mehr Kredite vergeben werden, weil die Nachfrage ausbleibt. Die verzerrten Devisenkurse würden zu einer falschen Sicherheit führen, wie wir in der Schweiz schmerzhaft erfahren haben, als die Illusion zu Ende war. Der „Blick" entwickelte dafür das Eigenschaftswort „draghisch".
 
Der Leitzins an der Nullzinsgrenze, bei dem praktisch alle Luft draussen ist, bleibt bei rekordtiefen 0.05 %. Der Schweizer Börsenguru Marc Faber, der in Thailand residiert, sagte: „Die Bankenwelt liebt die Notenbanken, weil diese mit all der Liquidität die Preise von Aktien in die Höhe trieben – und damit für mehr Kommissionen sorgen.“ Er empfiehlt nach wie vor Gold, das auf über 1300 USD pro Unze kletterte und sich in USA in diesem Jahr um 10 % verteuerte.
 
Vorbereitet
Draghi hatte in den Tagen vor der Bekanntgabe seines Entscheids einige Informationsfetzen durchsickern lassen und die Märkte dadurch auf solche Massnahmen vorbereitet. Die Märkte reagierten deshalb relativ gefasst darauf; der DAX erreichte ein Rekordhoch. Der Euro fiel unter 0.99 CHF. Dieses Vorgehen stand ganz im Gegensatz zur SNB, welche die Marktteilnehmer nicht nur im Ungewissen liess, sondern sogar irreführte, was seinen Preis in Form eines Glaubwürdigkeitsverlusts hatte. Es schien fast, als ob dieses Vorgehen die Handschrift der CHF-Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf trage, die Jordan denn auch ihr „vollstes Vertrauen“ aussprach …
 
Die Weiterführung der Stützungsmassnahmen hätten die SNB allein im Januar 2015 etwa 100 Mia. CHF gekostet, und in jenen astronomischen Bereichen wollte sie sich nicht länger aufhalten. Die Euro-Manipulation wird nun vorläufig der EZB allein überlassen. Kommentar von Telepolis (http://www.heise.de/tp/artikel/43/43937/1.html:
„Draghi druckt Europa in den Bankrott“. Gut, sind wir Schweizer etwas weiter weg von den Notenpressen.
 
 
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