Textatelier
BLOG vom: 26.03.2015

Von Schreibschriften und vom Scharf-S: Durcheinander

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/Westdeutschland
 
 
In vielen Teilen Europas haben die Unterrichtsministerien entschieden, dass in den Schulen die Schreibschrift nicht mehr unterrichtet werden soll. Es geht also darum, die zusammenhängende Schrift, in der Schweiz auch Schnürlischrift genannt, zugunsten der Vermittlung von Druckbuchstaben abzuschaffen oder sie zumindest nicht mehr in den Vordergrund des Unterrichts in den ersten Schuljahren zu stellen. Es gibt neben den Befürwortern der Vereinfachung auch viele Kritiker, die der Ansicht sind, dass die verbundene Schrift für die kognitive Entwicklung der Kinder wichtig sei.
 
Die Abschaffung hat viel mit der Technisierung zu tun, es wird immer weniger „mit der Hand“ geschrieben, sondern oft auf dem elektronischen Gerät. In meinen Augen ist es eine Verarmung.
 
Ich habe in den ersten Jahren in der Schule noch die deutsche Schreibschrift gelernt, zwar nicht als Grundschrift, denn das war die lateinische, aber deshalb, weil immer noch viele Eltern und Grosseltern meiner Generation so oder in einer Mischform schrieben. Es gab auch nicht nur eine „deutsche Schreibschrift“, sondern verschiedene, sich ähnelnde Schriften, allein in den Jahren 1900‒1955 finde ich die „Kurrent um 1900; die „Schulausgangsschrift von Ludwig Sütterlin, 1911“, die „Offenbacher Schrift von Rudolf Koch, 1927“, die „Verkehrsschrift von 1934“ und die „Deutsche Schreibschrift nach Vorlagen der Koch-Hermersdorf-Schrift“, in Bayern (und nicht nur dort!) von 1950 bis 1955 als Zweitschrift in Gebrauch.
 
Das war nicht anders als heute. In den deutschen Grundschulen kann immer noch von der Schulleitung entschieden werden, ob neben der Druckschrift die lateinische Ausgangsschrift, die Vereinfachte Ausgangsschrift oder die Schulausgangsschrift unterrichtet wird. Die neueste Alternative, etwa in einigen Grundschulen in Nordrhein-Westfalen/D, ist die Neue Grundschrift, die aus Druckbuchstaben besteht, die individuell verbunden werden können. Bei so viel Durcheinander ist es fast logisch, dass jetzt ganz auf die verbundene Schrift verzichtet werden soll!
 
Die heutigen Schulkinder können zwar die Druckschrift, z. B. die Antiqua, lesen, aber nicht mehr die Fraktur-Druckschrift. Noch in den 1920er-Jahren wurden Zeitungen und Bücher damit gesetzt, neben den sich nach vorn drängenden heutigen Schriften.
 
Ich greife mir aus all diesen Schreibarten die Schreibweisen des „S“ in den 4 Formen heraus, wie sie die alten Schriftarten aufzeigen:
 
a) Sie wurden wie ein Ei geformt, wobei das obere Ende spitz zulief und die Striche bogenförmig zu beiden Seiten heruntergezogen waren, oder
b) wie eine runde „6. Allerdings war das mittlere Kreisende nach links und nach unten weisend durchgezogen;
c) oder wie eine grosse „1“ mit einem Verbindungsschwänzchen; und endlich
d) wie eine zusammengezogene „13“ geschrieben, wobei die „1“ mit einem langen Strich versehen ist, und die 3 sich wie ein Rucksack am Rücken festklammern.
 
Die Abbildungen dazu finden sich hier:
Alle vier Zeichen haben etwas mit „s“ zu tun, das letzte wird „Eszett“, „Rucksack-S, „Klammer-S“ oder „ein scharfes s“ genannt. Das erste Zeichen ist der Grossbuchstabe „S“. Das zweite Zeichen kann nur am Ende eines Wortes oder einer Silbe stehen, es heisst auch „Schluss-S“ und darf nicht verdoppelt oder 2× aufeinanderfolgend geschrieben werden. In allen anderen Fällen steht das dritte Zeichen, das auch dann verdoppelt werden darf, wenn die folgende Silbe ‒ nicht das folgende Wort ‒ auch mit einem „S“ beginnt. Die richtige Schreibweise war für Schreibanfänger eine grosse intellektuelle Leistung und das 4. Zeichen war eine weitere Schwierigkeit!
 
Das noch heute so geschriebene „ß“ ist ein Zeichen, das nur in der deutschen Sprache vorkommt. Es dient zur Darstellung des stimmlosen „S“. Es entstand aus einem „langen S“ und einen „runden S“. So eine Zusammenfügung wird „Ligatur“ genannt, von lat. „ligare“ = „binden“. Allerdings wird das Anhängsel, wie oben zu sehen, genau so geschrieben wie das „z“ in der Sütterlin-Schrift, und konnte früher dadurch zum Leseproblem werden, wenn undeutlich geschrieben worden war. In der Schweiz und in Liechtenstein wird es nicht benutzt, dort wird in allen Fällen „ss“ geschrieben. In einigen Fällen könnte das zu Missverständnissen führen, weil es Wörter gibt, die lang und stimmlos und kurz und stimmhaft gesprochen werden, wie z. B. bei „Busse“, einerseits der Plural von „Bus“ und andererseits auf die Reue folgend; und „Masse“, einerseits eine Menge und andererseits eine Messgrösse. Wie auch bei der Gross- und Kleinschreibung kommt es auf den Textzusammenhang an, damit ist die Bedeutung gesichert. Wie Sie unschwer sehen, schreibe ich meine Texte immer mit „ss“, da die Website www.textatelier.com in der Schweiz erscheint und sich an ein internationales Publikum richtet.
 
Von 1901 bis 1966 gab es die Rechtschreibung für „s“ und „ß“ nach Johann Christoph Adelung, danach orientiert sich die neue Regelung an Johann Christian August Heyse aus dem Jahre 1829.
 
Die neue Regelung, erarbeitet vom „Rat der deutschen Rechtschreibung“, einer Abteilung des „Institutes für Deutsche Sprache“ in Mannheim, ist einfacher zu merken, denn alle Wörter, die kurz gesprochen werden, schreibt man mit „ss“, alle anderen, auch die nach Diphtongen (ie, au, eu, usw.) mit „ß“.
 
Hier einige Beispiele:
 
20. Jhd. (Adelung)               21. Jhd. (Heyse)
Wasserschloß                      Wasserschloss
Straßeneinfluß                     Straßeneinfluss
Meßergebnis                        Messergebnis
Paßstraße                             Passstraße
 
Wie man am letzten Wort sieht, war es früher nicht erlaubt, das „s“ drei Mal hintereinander zu schreiben! Allerdings kommt es durch diese neue Regel auch zu Kuriositäten wie „ich weiß“ und „wir wissen“. Der Rat hat sich nicht dazu durchringen können, diesen Sonderbuchstaben ganz abzuschaffen, wie es in unseren südlichen Nachbarländern der Fall ist! Bei der Grossschreibung ganzer Wörter, wie es auf Plakaten usw. schon einmal vorkommt, schrieb man bisher statt „ß“ zwei „S“, da es den Sonderbuchstaben in der Grossschrift nicht gab. Das hat sich geändert, aber nicht die Norm, wie in einem Online-Artikel der WELT vom 25.06.2008 zu lesen ist:
 
„Die letzte Lücke im deutschen Alphabet ist geschlossen – zumindest technisch. Das ß gibt es nun auch als Großbuchstabe erstmals verankert in den internationalen Zeichensätzen ISO-10646 und Unicode 5.1. Es hat dort den Platz mit der Bezeichnung 1E9E. Das bestätigte das Deutsche Institut für Normung (DIN) in Berlin ebenso wie die Internationale Organisation für Normung (ISO). Die Änderung werde in Kürze veröffentlicht. Damit hatte ein Antrag der DIN-Leute, eine Norm für das große ß zu schaffen, teilweise Erfolg.
 
Die Rechtschreibregeln sind davon zunächst nicht betroffen. Sie sehen vor, dass das ß weiterhin in Großschreibweise als SS dargestellt wird. Obwohl dies der Logik der Groß- und Kleinschreibung widerspricht, wollten die internationalen Normungsgremien nicht daran rütteln und haben sich – wie zu hören ist nach kontroverser Diskussion – aus der deutschen Rechtschreibung lieber diplomatisch herausgehalten.“
 
Für den Normalbürger ist das nicht zu verstehen! Für Politiker gibt es scheinbar keinen Grund für eine erneute Angleichung.
 
 
Quellen
Süss: „Deutsche Schreibschrift, Lesen und Schreiben lernen“, Augustus Verlag, München 2000.
Faulmann, Carl: „Schriftzeichen und Alphabete aller Zeiten und Völker“, Nachdruck der Ausgabe der kaiserlich-königlichen Hof- und Staatsdruckerei, Wien 1880, Weltbild Verlag, Augsburg, 2004.
 
 
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