Textatelier
BLOG vom: 06.10.2015

Emina will never die

Autor: Dr. H. L. Wessling, Osteuropahistoriker und Slawist, Deutschland

 

Eine Hommage auf Dr. Himzo Polovina (1927-1986) und die bosnischen sevdalinke

 

Dr. Himzo Polovina (1981)

Dr. Himzo Polovina (1981)

Mach aus Liebesleid ein Liebeslied – dieser von Emil Baschnonga (I beg your pardon!) frech entliehene Aphorismus könnte als Motto für ein Phänomen der balkanischen Folklore herhalten, das im Zuge der Verwerfungen durch die jugoslawischen Sezessionskriege einerseits einer gewissen Vergessenheit anheimgefallen ist, andererseits in seinem „Stammland“ zu einer nationalen Re-Identifikation durch eine Reihe neuer junger Interpreten geführt hat – die bosnisch-(muslimischen) sevdalinke.

Abgeleitet vom türkischen Wort für „Liebe“ sevda (balkanisiert: sevdah) wird in diesen getragenen, meist in Moll-Tonarten gehaltenen Balladen und Klageliedern, die sich durch die individuelle Modulation der Interpreten/innen nur schwer in Noten fassen lassen, vorwiegend verlorenes Liebesglück und unerfüllte Sehnsucht thematisiert, häufig mit tragischen Schicksalen des jeweiligen lyrisch-musikalischen Ichs oder der besungenen Protagonisten verbunden.

Der historische Ursprung der sevdalinke liegt in den Jahrhunderten der osmanischen Herrschaft über Südosteuropa (1469-1913) begründet und hat, wollte man die Texte modern interpretieren, viel zu tun mit dem Leben unter der Scharia, unter fremder Oberherrschaft und religiösem Anpassungszwang, aber auch mit einer bestimmten Form balkanisch-schlitzohrigen Umgangs mit schwierigen Verhältnissen.

Allerdings stammen einige der Lieder aus einer Periode zwischen Romantik und ausgehendem 19. Jhd., vereinfacht gesagt, aus der Zeit des „Völkerfrühlings“. Manche sind Nachdichtungen. Auch historische Persönlichkeiten, wie Sokollu Mehmed Pascha (serb. Mehmed Paša Sokolović) (1505-1579),  werden in der Form von Heldenepen „besungen“: ein bosnischer Grossbauernsohn, der durch die „Knabenlese“ an den Hof Süleymans I. nach Istanbul gelangte, zwangsislamisiert wurde und es bis zum Grosswesir des Osmanischen Reiches und zum Stifter zahlreicher Bauwerke auf dem Balkan brachte (u.a. Drina-Brücke bei Višegrad; berühmt durch Ivo Andrićs Roman „Na Drini ćuprija – Die Brücke über die Drina“).

Sokollu Mehmed Pascha (zeitgen. Ölgemälde, 16.Jhd.)

Sokollu Mehmed Pascha (zeitgen. Ölgemälde, 16.Jhd.)

Der kongeniale Interpret der bosnischen sevdalinke war Dr. Himzo Polovina, ein 1927 in Mostar, noch im sog. SHS-Staat der Zwischenkriegszeit  (Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen) geborener Neuropsychiater aus Sarajevo, noch dazu mit einem Sprachfehler belastet (das vokalische „r“ im Serbokroatischen fiel ihm genauso schwer wie den meisten Nichtslawen), dessen Kollegen ihn 1953 seines unglaublichen stimmlichen Timbres wegen überredeten, für Radio Sarajevo eines dieser „traditionals“ aufzunehmen.

Trotz anfänglicher Probleme mit dem Sender sowie mit der Vereinbarung von Musik und Beruf war das der Startschuss für eine über drei Jahrzehnte andauernde musikalische Karriere. Mehr noch, Polovina wurde zum Synonym für sevdalinke. Kein Ort im Nachkriegsjugoslawien, in der seine Auftritte nicht mit tosendem Applaus bedacht worden wären. Fünf Zugaben am Ende waren die Regel. Seine alten Vinylplatten, von denen ich noch einige besitze und auf deren Covern er meist in der traditionellen Tracht der bosnischen Muslime mit der charakteristischen Kopfbedeckung, dem fezić, zu sehen ist, wurden zu Bestsellern im Tito-Staat und unter den im Ausland lebenden und arbeitenden Jugoslawen, die nicht selten zu Tränen gerührt diesen heimatlichen Klängen lauschten.

Himzo Polovina, Albumcover Jugoton (1964)

Himzo Polovina, Albumcover Jugoton (1964)

Zu den bedeutendsten Titeln, in denen es um die erwähnte Herz-Schmerz-Thematik geht – das lyrische Ich ist meist eine weibliche Person – gehören:

 „Stade se cvijeće rosom kititi“ = Die Blumen beginnen sich mit Tau zu schmücken

Ein junges Mädchen wurde mit einem (wohlhabenden) alten Mann zwangsverheiratet, muss ihm „um den grauen Bart streichen“, seinen Haushalt führen und sehnt sich angesichts der Vögel im Frühling nach wahrer Liebe zu einem Gleichaltrigen.

„Moj behare“ = Meine Blütenknospe

Eine junge Frau beklagt ihr Schicksal. Ihr Geliebter wurde ihr von einer „Freundin“ abspenstig gemacht und sie muss traurig allein zurückbleiben.

Tuga – der zentrale Terminus der sevdalinke, der auf bestimmte Weise auch ein bosnisch-muslimisches Lebensgefühl ausdrückt, ist nur schwer zu übersetzen: eine Mischung aus Melancholie, Sehnsucht, Trauer und Nostalgie. Dieser Topos taucht immer wieder in bizarr anmutenden Anaphern und Alliterationen auf: „tużno tugu tugujem“ (in: „Stade se cvijeće …“) = etwa: „traurig betrauere ich meine Trauer“.

Ohne dass irgendwelche nachweisbaren kulturhistorischen Zusammenhänge bestünden, erinnert dieser sentiment etwa an den portugiesischen Fado oder an die Ursprünge des afro-amerikanischen Blues. Die Wurzeln des Letzteren fussen zudem gleichfalls auf einer historischen Unterdrückungs- und Ausbeutungssituation. Wie im American Folk Blues gibt es auch frivol-humoreske Stücke, wie zum Beispiel:

Pošetala Suljagina Fata“ – Suljagina Fata ging spazieren

Eine bosnische Schönheit flaniert durch das Mostarer Basarviertel und trifft dort im 7. (!!) Basarstand („u sedmom dućanu“) auf Mustafa (Mujo), den attraktivsten unter den Basarhändlern von Mostar (Polovina singt: „ a najlijepšij je bazerđan Mustafa“ = „aber der Schönste ist der Basarhändler Mustafa“), von dem sie in kecker Anmache ein Gran Gold geschenkt haben möchte („daj mi oku zlata“). Mustafa, nicht nur schön, sondern auch noch clever, redet sich heraus, seine Goldwaage sei leider momentan defekt. Die „dumme“ Fata ( „luta Fata“) betritt dann auch noch den Verkaufsstand, was Mustafa-Mujo geschickt ausnutzt, indem er die Tür nach aussen verriegelt und so der Phantasie des Zuhörers freien Lauf lässt. Die pejorative Bezeichnung des muslimischen Bosniers als „Mujo“ hat hier vielleicht ihren Ursprung.

Auch Anakreontik und Alltagsrealität des ausgehenden 19. Jhd. kommen in einigen Liedern nicht zu kurz:

„Vino piju Age Sarajlije“ – Die Agas von Sarajevo trinken Wein

Wiewohl vom Koran verboten, bechern die Agas (= niederer Rang im osmanischen Militäradel) im Bahnhofslokal („pokraj železnice“) und flirten ohne Unterlass bis zur Zudringlichkeit mit einer „sarajka djevojka“, einem Mädchen aus Sarajevo, das die Herren bedient und diese schliesslich tapfer belehrt, dass sie zum einen kein Freiwild und zum anderen bereits vergeben sei. Der schon seit ewigen Zeiten verbreitete Slogan „Sarajlije meraklije – ništa ne  rade bez rakije“ = „Die Leute aus Sarajevo sind Genussmenschen, nichts tun sie ohne Schnaps“ findet so seine historische Begründung.

Wer sich mit der bosnischen Variante des Serbokroatischen befasst, wird nicht umhin kommen, sich mit einer ganzen Reihe türkischer Lehnwörter (Turzismen) anzufreunden und sollte zumindest über Grundkenntnisse der türkischen Sprache verfügen. 450 Jahre osmanischer Herrschaft mussten zwangsläufig ihre Spuren hinterlassen. In den sevdalinke tauchen immer wieder Turzismen auf wie: „telal“ (der „Ausrufer“, der dem Volk die neuen Erlasse des Paschas verkündet); „akšam geldi“ (der Abend kommt) oder „bazerđan“ (der Basarhändler) und „komšiluk“ (die Nachbarschaft).

Gleichwohl bildet die Gruppe der bosnischen Muslime eines der seltenen Beispiele für einen aufgeklärten Islam, der sich cum grano salis bedingt durch die religionsfeindliche Innenpolitik Tito-Jugoslawiens und durch eine ethnische Minderheiten- und Inselsituation, nie von fundamentalistischen Strömungen hat vereinnahmen lassen. Lediglich die Türkei in der Periode von Kemal Atatürk bis zum aktuellen Neofundamentalismus Erdoğans hatte partiell etwas Vergleichbares zu bieten. Bleibt zu hoffen, dass die aktuellen Versuche der Saudis, mit ihren Ölmillionen die muslimischen Bosnier zum Wahhabismus zu „bekehren“, was im Klartext nichts anderes bedeutet als rückwärts zu Scharia und alter Abhängigkeit, im wahrsten Sinne des Wortes auf Sand gebaut sind.

Die bosnischen Muslime waren die Hauptleidtragenden der jugoslawischen Sezessionskriege. Vor allem von Serben verübte Ethnozide, für die der Name des kleinen ostbosnischen Ortes Srebrenica als Synonym steht, aber auch die vom Präsidenten Franjo Tuđman befohlene kroatische Aggression in der Hercegovina trafen auf eine nahezu wehrlose Bevölkerungsgruppe. Zudem ist der neue Staat Bosnien-Hercegovina ein höchst heterogenes dreigespaltenes Gebilde mit der von Serbien gesteuerten Republika Srpska im Norden und der kroatisch dominierten Hercegovina im Süden, wobei die muslimisch geprägte Kernregion um die Hauptstadt Sarajevo nicht in der Lage ist, eine wirksame staatliche Kontrollfunktion auszuüben.

Zum Abschluss zurück zu Himzo Polovina. Seine Hymne, die früher jedes jugoslawische Schulkind auswendig konnte, ist das melancholische und mit einem gesprochenen Prolog eingeleitete Versepos Emina. Zwar kein traditional, sondern eine Dichtung des serbisch-bosnischen Poeten Aleksa Šantić (1868-1924) (Aussprache: Schantitsch) aus dem Jahre 1902. Das Subjekt dieses Liedes ist keine fiktive Person, sondern es ist eine (platonische) Liebeserklärung in Form einer Ode für eine offenbar beeindruckende Nachbarin aus Šantiḉs Jugendjahren in Mostar, Emina  Koluder, geb. Sefić (1884-1967), die in ihrer späteren Ehe 14(!) Kinder zur Welt brachte und das stolze Alter von 83 Jahren erreichte. Eine Bronzestatue Eminas steht seit fünf Jahren in Mostar.

Aleksa Šantic

Aleksa Šantić (1916)

Emina-Statue</

Emina-Statue

Ihr und dem Andenken an Himzo Polovina seien die letzten Zeilen des bekanntesten unter den sevdalinke gewidmet, die der Interpret selbst als eigene Dichtung und ergänzenden Epilog ans Ende seines Vortrags stellte:

Umro stari pjesnik, umrla Emina – Der alte Dichter ist gestorben, Emina ist gestorben

ostala je pusta bašća od jasmina – Der verlassene Jasmingarten blieb zurück

salomljen je ibrik – Die Wasserkanne ist zerbrochen

uvelo je cvijeće – Die Blumen sind verdorrt

pjesma o Emini, nikad umrijet neće. – Das Lied über Emina aber wird niemals sterben.

Himzo Polovina verstarb plötzlich und unerwartet  im August 1986 im Alter von nicht einmal 60 Jahren nach einem Herzinfarkt während eines Urlaubs mit seiner Familie in Montenegro. Auf der Website von Radio Sarajevo war ein verspäteter Nachruf aus Anlass seines 25. Todestages zu lesen. Die Headline lautete: „Himzo Polovina, ein Arzt, der mit sevdah (Liebe) heilte“.

 
Literaturempfehlung:
Ekmeleddine Ihsanoğlu (Ed.) The Different Aspects Of Islamic Culture, Vol. 5, (Culture under Ottoman Sovereignty, S. 330ff / zum Thema sevdalinke: vgl. S. 333; Music In Islamic Culture, S.695-735 ) UNESCO Publishing, ISBN 92-3-103909-1
Leseprobe im Web: https://books.google.de/books?isbn=9231039091
 


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