Textatelier
BLOG vom: 24.05.2016

Blick in Abgründe der Kriminalgeschichte

Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Beromünster LU/CH


Franz Desgouttes: Ein „Scheusal“, das Kant zitierte

„Es gibt Länder stiller Mörder“, formulierte einmal der Schriftsteller Jürg Federspiel in einem Band mit Erzählungen aus der ländlichen Schweiz. Nicht erst in Rupperswil 2016 verstand man angesichts einer im ländlich-vorstädtischen Milieu unbegreiflichen Tat die Welt nicht mehr. Das Böse wurde zu allen Zeiten mit dem Fremden und ganz Anderen in Verbindung gesetzt. Zum Beispiel galt das Durchschneiden der Kehle im 19. Jahrhundert wie allgemein das Messerstechen als eine südländische Spezialität, so wie es im 21. Jahrhundert als Kennzeichen von IS-Tätern öffentlich wurde. Selbst auch die aus Europa rekrutierten Aktivisten gelten grundsätzlich als kulturfremd und mit hiesigen Vorstellungen von Zivilgesellschaft nicht kompatibel. Zu einem Absolventen der Alten Kantonsschule Aarau, seit 1802 eine vorbildliche Lehrstätte zivilisierten Schweizertums, scheint Halsabschneiden und Mordbrennen definitiv nicht zu passen. Die Neue Kantonsschule, aus einer Frauenschule hervorgegangen, galt als etwas weniger elitär, aber doch als ebenso humanitär.

Die ältere Kriminalgeschichte des Landes enthält ein Beispiel, welches den aufgeklärtesten Bewohnern der im 19. Jahrhundert fortschrittlichen Stadt Aarau das Gruseln beibrachte. Der erschütterndste Mordfall im Hungerjahr 1816/17 betraf einen jungen Aarauer namens Daniel Hemmeler, damals Kanzlist eines angesehenen Anwalts in Langenthal. Dass ihm sein eigener Chef und Lehrmeister in einem Anfall von Raserei mit einem Vorläufer des Schweizer Militärsackmessers im Schlaf den Hals aufgeschlitzt hatte, galt als das unbegreiflichste Verbrechen der damaligen Zeit. Nicht irgendein hergelaufener Räuber war am Werk gewesen, sondern ein hochgebildeter Mann mit Doktortitel, ein feiner Harfenspieler. Der Jurist Dr. Franz Niklaus Desgouttes, knapp 33 Jahre alt, galt als ein Freund des Kantons Aargau, dessen Unabhängigkeit 1814 von Bern in Frage gestellt wurde. Liberal gesinnt, war der Täter ein Abonnent von Heinrich Zschokkes „Schweizerbote“ gewesen, der damals fast einzigen unabhängigen Zeitung in der Schweiz.

Der Vater des Mörders, Franz Desgouttes sen., gehörte zu den helvetischen Revolutionären im Oberaargau um 1798. Für Daniel Hemmeler, den Jüngling aus Aarau, brachte die Lehrstelle in Langenthal eine gute Ausbildung mit Privatunterricht in Allgemeinbildung und Recht. Dass er sich dabei über Jahre von seinem Chef sexuell misshandeln lassen musste, kam aber nicht an die Öffentlichkeit. Aus den Gerichtsakten, rund 600 Seiten, ergibt sich nebenher der erste Plan einer voremanzipierten Homo-Ehe in der Schweiz. Desgouttes, mit einer ältlichen Erbin aus Bern verlobt, schlug vor, dass der junge Hemmeler seinerseits seine Freundin Viktoria, Arzttochter aus Langenthal, heiraten solle. Die beiden Frauen wären für die Arbeit im Haushalt und den bürgerlichen Status nützlich gewesen: eine optimale Ergänzung zu einem mann-männlichen Liebesleben. Diese Vorstellung war für den jungen Partner aber nicht nachvollziehbar. Seinen mangelnden Sinn für diesen revolutionären Vorschlag musste er mit dem Leben bezahlen.

Die Tat wurde in Aarau als ein umso grösserer Skandal empfunden, als der einflussreichste Denker in der Stadt, Volkserzieher Heinrich Zschokke, zutiefst der Überzeugung war, Bildung sei das beste Mittel zur Verbesserung des Menschen und der Menschheit. Das Böse sei vor allem eine Folge von Unbildung und mangelndem ethischen Bewusstsein. Nun aber fand man beim Täter ein Tagebuch, in dem in schönster Kalligraphie (Reinschrift) der kategorische Imperativ von Kant aufnotiert war: „Handle so, dass die Maximen, die du wähltest, als allgemeine Gesetze gelten können.“ Es handelte sich um Grundsätze, nach denen Zschokke und sein Weggefährte Ignaz Paul Vital Troxler von 1819 bis 1830 in Aaraus Lehrverein Erwachsenenbildung und Aufklärung einer neuen liberalen Männergeneration betreiben wollten. Wie konnte ein solches Bekenntnis ausgerechnet bei einem Menschen gefunden werden, der sich am Ende selber als „Scheusal“ bezeichnete?

Das Verbrechen, begangen von einem begabten, aufgeklärten und gebildeten Mitbürger und Akademiker, stellte das eigene optimistische Weltbild in Frage. Zschokke hat dies 1821 in seiner philosophischen Erzählung „Eros“ dargestellt: Mit kritischem Hinweis auf den Täter, der am 30. September 1817 in Aarwangen als einer der letzten in Europa auf dem Rad hingerichtet worden war. Sowohl die Tat als auch ihre Ahndung waren für ihn ein Rückfall ins Mittelalter. „Die Natur hat in ihrem Buche viele dunkle Stellen“, war Zschokkes Erkenntnis aus jenen Tagen.

Was war in jener Nacht vom 28. auf den 29. Juli 1817 geschehen? Dr. Franz Desgouttes, nach dem Verkauf seines Elternhauses mit seinem Angestellten eingemietet im „Stock“, einer Dépendance des Hotels Bären im Langenthal, hatte seinen Schreiber umgebracht, weil dieser auf das Monatsende Wohnung und Stelle gekündigt hatte. Mochte  der Chef seinen jungen Angestellten „behalten“, musste mit Gewalt nachgeholfen werden. Was dann in jener Nacht auch geschah; jedoch weniger kaltblütig als es bei Morden dieser Art in der Regel unterstellt wird.

Der 32jährige Täter hatte „seinen“ Liebling Daniel schon die Nacht zuvor erstechen wollen. Der Schlafende, dem das schönste Zimmer der Wohnung zur Verfügung stand, bot ihm aber einen derart niedlichen knabenhaften Anblick, dass es Desgouttes nicht übers Herz brachte, ihm den Hals aufzuschneiden; eine Tat, die er kurz zuvor an einem zahmen Fuchs geübt hatte. So blieb dem Täter für den erneuten Versuch die Nacht darauf nichts anderes übrig, als sich mit einer halben Flasche Schnaps so stark zu betrinken, um die Tötungshemmung endlich zu beseitigen. Der vorsätzlich herbeigeführte Vollrausch behinderte ihn bei der Flucht, was dann eine schnelle Festnahme ermöglichte. Die Bluttat sprach sich wie ein Lauffeuer herum.  Das Aktenmaterial blieb lange geheim. Bei der spektakulären Hinrichtung auf dem Rad von Aarwangen, nach vorheriger Erdrosselung, durfte von einem sexuellen Hintergrund der Tat nicht die Rede sein. Von einem Raubmord war die Rede, ausserdem von den Folgen massloser Romanlektüre. Für das damalige Bern ein Vorwand für eine noch verschärfte Zensurpraxis. Nur wenige Eingeweihte erfuhren,  dass der Mord ein sexuelles Motiv hatte. Der in dieser Sache recherchierende Glarner Hutmacher Heinrich Hössli (1784 – 1864) liess jedoch nicht locker, dass es bekannt wurde. Er war es wohl, der die von ihm verehrten Gelehrten Zschokke und Troxler über die ihm bekannten speziellen Neigungen des Täters Desgouttes unterrichtete. Die Homosexuellenhistorie will in Zschokkes Erzählung „Eros“ 1821) Heinrich Hössli als Aufklärer in dieser Sache wiedererkennen.

Für den Volkserzieher und Intellektuellen Zschokke war der Täter Franz Desgouttes  nicht „die Bestie von Langenthal“. Lukasson, wie Desgouttes in der Erzählung heisst, war für den Erzähler zwar „der entschlossene, vorsätzliche Mörder, Mörder ohne Ursache, ohne Anreizung zur Gräuelthat, ohne vorangegangene Beleidigung“. Die Richter hätten ihn nicht zu Unrecht verurteilt. Doch gebe es „verschiedene Menschenarten“, jenseits der Rassen und Stämme, die wie „Wassermenschen“ in der bürgerlichen Gesellschaft ihr Element nicht fänden. Solche Menschen würden zu einem Doppelleben gezwungen, was bei einigen kriminelles Verhalten bewirke und die Willensfreiheit einschränke. Gemeint waren die „Mannliebenden“.( Der Begriff „homosexuell“ kam erst um 1865 auf.)

Kriminalhistorisch steht Franz Desgouttes (1785 – 1817) nicht primär als pädosexueller und homosexueller Täter im Fokus. Im Vordergrund stehen Mordphantasien, die ihn ab der Pubertät bis zur Tat, die er dann im 33. Altersjahr endlich ausführte, unablässig verfolgten. Erstmals wollte er als minderjähriger Zögling von Pfarrer Moser in Lützelflüh (dem späteren Pfarrhaus von Jeremias Gotthelf) einen im gleichen Hause lebenden Knaben umbringen. Das biblische Gebot „Du sollst nicht töten“ habe ihn damals jedoch noch davon abgehalten. In Yverdon wurde Desgouttes als Institutszögling abermals von Mordphantasien heimgesucht. Sie betrafen seine erste Tanzstundenpartnerin. Dass er sie nicht strangulierte, war abermals den Wirkungen von Erziehung, Religion und wohl auch einer natürlichen Tötungshemmung zu verdanken.

Desgouttes Bekenntnisse, Tagebücher und seine Verhöre bezeugen eine monomanische Folge oft pädophiler Phantasien in Verbindung mit Tötungswünschen. Der Hintergrund war nicht einfach Unmoral, im Gegenteil. Fast immer ging es um die Bestrafung des Opfers mit anschliessendem Vorsatz zur Selbstbestrafung. Nicht der Homosexuelle oder Pädophile (bei Desgouttes war beides verbunden) schienen pervers, sondern die Situation, in der er sich befand. Dabei wollte Desgouttes unbedingt „normal“ sein. Noch und noch versuchte er sich bei Mägden und Prostituierten sexuell zu betätigen. Dass es ihn nicht befriedigte, erfüllte ihn mit Wut, erst recht die Rückweisungen seines Lehrlings Hemmeler, den er mit Aphrodisiaka, der berüchtigten Spanischen Fliege (Kantharidenextrakt) gefügig zu machen versuchte.

Es dauerte gegen 16 Jahre, bis er sich den Wunsch seiner Wünsche, einen Tötungswunsch, endlich gestatten konnte. Die Hinrichtung des Opfers hatte für ihn den Charakter einer Hochzeit. Zu seinen Plänen gehörte, Daniel Hemmeler an einem Waldrand umzubringen und zu begraben, um dort dann eine Einsiedelei zu errichten als eine Art perverser Bruder Klaus von Flüe. Zum Totalitarismus der mörderischen Vereinigung gehörte und gehört der Besitzanspruch über den Tod hinaus. Es handelt sich hier um ein „kriminologisches“ Modell, das für phantasievolle, im Einzelfall intelligente und gebildete Täter eine gefährliche Versuchung darstellen kann. 

Pirmin Meier, Historischer Autor, veröffentlichte 2002 mit „Mord, Philosophie und die Liebe der Männer“ (3 Auflagen) die parallelen Lebensgeschichten des in Aarwangen auf dem Rad hingerichteten Franz Desgouttes (1785 – 1817) und des Glarner Homosexuellenpioniers Heinrich Hössli (1794 – 1864). Er erhielt u.a. für dieses – derzeit vergriffene –  Buch den Aargauer Literaturpreis.

 
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