Textatelier
BLOG vom: 22.06.2018

Grübeleien eines Insassen in einer deutschen Strafanstalt

Autor: Richard Gerd Bernardy, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, Viersen/D

 

Die Zellentüre, meine Zellentüre, wird abgeschlossen. Einschluss wird dieser Vorgang im Gefängnis genannt.

Heute kommt niemand mehr, heute verlangt niemand mehr etwas von mir, heute bekomme ich nur noch das Abendessen. Dann ist der Tagesablauf abgeschlossen, wie meine Zelle. Jetzt bin ich allein.

Jetzt kann ich mich durch das Fernsehprogramm oder durch ein Buch, ein Video oder Musik ablenken lassen.

Oder ich gebe mich meinen Gedanken hin. Was macht meine Familie jetzt? Denken sie dort an mich, reden sie über mich? Was denken sie wirklich? Ist es das, was sie sagen, wenn sie mich besuchen oder sagen sie das nur, um mich zu beruhigen?

Es ist alles in Ordnung!, das sagt mir meine Frau. Was heisst alles, was heisst in Ordnung? Ich rede mir ein,es stimmt, aber es kann nicht stimmen.
Schliesslich ist es jetzt die Familie eines Verbrechers, einer Bestie, eines Monsters, wie die Boulevardblätter mich betitelten.

Mir fällt ein Schlager ein: Was wird aus mir, was soll nur werden, was fange ich mit dem Leben an?

Meine Anträge auf eine Therapie, auf psychologische Betreuung, werden verzögert, Termine verstreichen, ohne dass etwas passiert.

Ich bin dem System Knast ausgeliefert. Und hier wie dort arbeiten Menschen, wie überall auf der Welt, Menschen, die sich ihre eigene Meinungen, ihre speziellen Vorurteile, ihren Hass, ihre Abwehr, angeeignet haben.
Für die einen ist der Strafvollzug reiner Luxus, für die anderen ist vieles daran verbesserungswürdig. Für die einen sind wir Menschen, die Fehler gemacht haben, die ihre Triebe nicht unter Kontrolle hatten; für die anderen Verbrecher, keine Menschen, mehr Tiere, Abschaum.

Auch unter den Gefangenen wird abgestuft:
Kinderschänder und -mörder und Vergewaltiger ganz unten, brutale skrupellose Mörder auf der zweiten Stufe, Mörder aus Eifersucht darüber. Drogenhändler, die auch an Kinder verkauft haben, stehen darüber. Dann kommen die Schläger, die ihre Aggressionen nicht im Zaun halten konnten, auf den oberen Stufen die Drogenabhängigen mit Beschaffungskriminalität und Bankräuber, darüber die Betrüger und Einbrecher, Geldfälscher, und dann diejenigen, die in ihr Vergehen einfach so hineingerutscht sind, Steuerhinterzieher oder deren Dulder. Und es gibt solche, die einfach nur öfters schwarzgefahren sind, die einfach nur in Läden etwas haben mitgehen lassen, oft nur Kleinigkeiten. Und die ihre Geldstrafe nicht bezahlen konnten, deshalb sitzen sie hier und kosten dem Staat viel mehr als die Höhe des Schadens, den sie verursacht haben.
Andere haben einfach nur Pech gehabt, erwischt zu werden, sie haben das Risiko falsch eingeschätzt, weil sie bisher davon gekommen waren.

Alle verlassen sie die gewohnte Umgebung, haben nur noch sehr begrenzt soziale Kontakte und müssen sie gegen eine andere, völlig fremde Realität eintauschen.

Viele kommen damit nicht zurecht, werden depressiv, versuchen, sich das Leben zu nehmen. Andere stellen fest, dass sie hier hinter Gittern verblöden, ihr Denkvermögen wird eingeschränkt. Wieder andere wollen sich ihre Rechte, die sie in diesem System haben, erkämpfen, die aus oft und durchsichtigen Gründen nicht gewährt werden. Sie wollen nicht nur Bittsteller sein.
Und dann sind noch die, die sich mit dem System abfinden, das in Anspruch nehmen, was ihnen angeboten wird, an Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten; als Hausdiener, die Wäsche einsammeln und nach der Reinigung wieder zu verteilen haben, die Essen ausgeben, oder die bei den Freizeitangeboten mitmachen, beim Chorsingen, bei der Schreibgruppe, beim Sport, in der Schachgruppe, im Sprach-, Alphabetisierungs- und Sprachkurs, im Literaturkreis. Sie nehmen an Gesprächen für Anonyme Alkoholiker oder am Religionskreis teil.
Und dann kommen noch die offiziellen Angebote mit dem Psychologischen Dienst, den Sozialarbeitern und -pädagogen. Manche lassen sind auch in das Gremium der Gefangen-Mitverantwortung wählen, um sich für Gefangenenrechte und -ansprüche gegenüber der Gefängnisleitung einzusetzen.

Dennoch, ich bin wie jeder Gefangene, ein Individualist, sehe mich zuerst dem System allein ausgesetzt. Solidarität kann ich nicht erwarten. Ich muss mich schon selbst bemühen.

Und so stosse ich auf Beamte, die abgestumpft sind, denen die Gefangenen egal sind, die ihren Job machen, wie überall nach dem Motto: So wenig wie möglich! Auch das Gegenteil kommt vor: Beamte, männlich oder weiblich, die sich die Sorgen anhören, die bei höherer Stelle ein gutes Wort einlegen.

Jeder der Gefangenen weiss genau, warum er jetzt hier ist, aber nicht immer, wann er wieder frei sein wird. Manch einer fühlt sich benachteiligt, etwa wenn die Gesetze: das Strafrecht, das Strafvollzugsgesetz; anderswo, in einem Land, das nur wenige Kilometer entfernt ist, weniger streng, rigide und lascher sind. Sie hadern damit, ärgern sich darüber, erwischt worden zu sein, unterscheiden zwischen vermeintlich guten und schlechten Richtern, Staatsanwälten und Anwälten. Vor allem die letzteren: braucht man sie, verlangen sie zuerst Geld, und ohne Geld läuft gar nichts!

Mancher Gefangene trauert auch der schönen Zeit nach, mit leicht verdientem Geld aus Drogengeschäften oder Drogenhandel oder Betrug, das für schnelle Autos, schöne Frauen, für Ansehen und Prestige unter der Per-Group ausgegeben werden konnte. Ja sogar die Pädophilen wünschen sich die Zeit zurück, in der sie ihre Triebe ausleben konnten.

Drogen sind zwar strengstens untersagt, aber es gibt sie doch hinter Gefängnismauern, so genau kann keine Kontrolle sein. Mit Ausnahme bei den Gefangenen, die am ersten Tag untersucht werden. Sie müssen sich ausziehen, einer genauen Körperprüfung unterziehen lassen, und sie fragen sich, wo ihre Würde bei dieser Prozedur bleibt. Es kommt auch vor, dass der Besuch, Frauen und Kinder, genauestens gefilzt werden.

Dennoch, Methadon als Heroinersatz ist eben doch nur Ersatz, und Kokain versetzt wie die Amphetamine in süsse Träume, lässt mich für ein paar Stunden der Wirklichkeit entfliegen.

Viele Gefangene sind schon mehrmals im Gefängnis gewesen, so verlockend waren die Möglichkeiten draussen, so gering die Widerstandskraft, bis der berühmte Arm des Gesetzes wieder zugeschlagen hat.

Ich als Gefangener ärgere mich mehr darüber, als dass ich einsichtig werde, dass das Risiko, wieder hier zu landen, ziemlich gross ist. Es ist meistens das gesellschaftliche System, selten der Gefangene selbst, der sich ändern muss.

Kann ich das überhaupt? Wenn die Einsicht nicht da ist und der Wille zu schwach oder schwankend ist, wenn es mir an Selbstdsiziplin, an Verstandesvermögen mangelt? Wenn ich mich sonst einfach nur einsam und verlassen fühle?

Dann kann keine Gefängnisstrafe aus einem Straftäter einen unbescholtenen Bürger werden lassen.

Und so ergebe ich mich in mein vermeintliches Schicksal, verfluche mein verpfuschtes Leben, aber ändere es nicht. Da nützt keine Therapie, kein Wiedereingliederungsbemühen, und alles fängt wieder von vorne an.

Gibt es Schuld, gibt es das Böse? Es gibt den Fehler, die Verstricktheit, die fehlgelaufene Erziehung, die genetische Konstellation, den Trieb, alles zusammen: das Versagen und da gegenüber steht das Gesetz und die, die es vertreten.

Und so lese ich die Schriften von Nietzsche und de Sade und frage mich, ob die Gesellschaft, so wie sie sie schildern, wirklich die bessere ist.

 


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