Textatelier
BLOG vom: 20.09.2020

Pierre Wenger – Ein wegweisender Geschichtslehrer

Autor: Pirmin Meier, Historiker und Schriftsteller, Aesch/LU


Zum baldigen 100. Geburtstag einer bedeutenden Persönlichkeit

Pierre Wenger, geboren am 4. November 1920 in Luxembourg, verstorben am 30. Juni 2013 in CH-8966 Oberwil-Lieli, Rigistrasse 8, Bezirk Bremgarten, Kanton Aargau, war ein Schweizer Kulturhistoriker, Geschichtslehrer, Japankenner und hoher Milizoffizier mit mehrjähriger Praxis als Militärattaché in Tokyo und Seoul. Ich benütze die Gelegenheit, schon jetzt seines in diesem Herbst fälligen 100. Geburtstages zu gedenken.  

Als herausragender Lehrer für Didaktik der Geschichte an der Universität Zürich wirkte er für mich persönlich prägend für eine Berufsauffassung, die Allgemeinhistorie unter Berücksichtigung der Alten Geschichte, etwa der Griechen, Römer, Hebräer mit einer streng quellenbezogenen Auffassung von Schweizergeschichte sowie „schöner“, von Jakob Burckhardt geprägter Kulturgeschichte mit Staatskunde und Politik zu verbinden versuchte. Dank seines Engagements in Japan und Korea als militärischer Vertreter der Schweizerischen Eidgenossenschaft kam auch die globale Perspektive nicht zu kurz. Als einer der bedeutendsten Geschichtslehrer, die es in der Schweiz je gab, stelle ich ihn in eine Reihe mit den für mich höchst anregenden Zürcher Historikern Marcel Beck, Max Silberschmidt, Leonhard von Muralt und Peter Stadler, nicht zu vergessen den Neutralitätshistoriker Edgar Bonjour, der jederzeit auch eine Auswärtsvorlesung in Basel wert war. Als persönlichen Förderer habe ich ihm indes mehr zu verdanken als jedem anderen dieser Koryphäen.

Pierre Wenger, als Staatsangehöriger des Grossherzogtums Luxemburg geboren, verbrachte den grössten Teil seiner Kindheit und seiner Jugend in Kreuzlingen. Hier war sein Vater in der berühmten Klinik „Bellevue“ des Psychiatrie-Pioniers Ludwig Binswanger als Arzt tätig. Hier ging zum Beispiel der Edelpatient Aby Warburg, aber zum Beispiel auch der Philosoph Ernst Cassirer ein und aus. Ludwig Binswanger war indes nicht nur Arzt, sondern auch ein philosophischer Kopf.  

Die humanistische, sogenannt ganzheitliche Sichtweise der Dinge wurde Pierre Wenger schon im Elternhaus mitgegeben. Der Verstorbene gehörte zu jener Gelehrtengeneration, welche einen wesentlichen Teil ihrer Ausbildungszeit im „Aktivdienst“ - in Deutschland hätte man gesagt „bei der Wehrmacht“ - verbringen musste. Der Unterschied zu deutschen Gelehrten lag wohl hauptsächlich im „guten Gewissen“, womit man in der Schweiz das Gedankengut der „Geistigen Landesverteidigung“ zu vertreten wusste. Das galt zumal für Lehrer und Offiziere der damaligen Zeit. Peter von Matt, bekanntester Schweizer Literaturhistoriker der Gegenwart, charakterisierte in der Juli-Nummer der Literaturzeitschrift „Schweizer Monat“ seine Lehrer aus der Generation Wengers als Professoren, die sich nicht gescheut hätten, bis tief in die sechziger Jahre hinein Vorlesungen über Literatur und Geschichte in Offiziersuniform zu halten.

Zu dieser Klasse von Professoren gehörte auch Pierre Wenger. Das Detail mit der Uniform liegt umso näher, als Wenger an der Eidgenössischen Technischen Hochschule, die ihre Gründung im 19. Jahrhundert vorab militärischen Überlegungen verdankte, einen Lehrauftrag zur Schulung militärischer Kader ausübte. Diese Aufgabe erfüllte er im Sinne eines weltläufigen Bürger-Soldaten, nie im Geist eines Militaristen. Als Historiker hatte Pierre Wenger sowohl die patriotisch orientierte altliberale Geschichtsschreibung eines Karl Meyer (1885 – 1950) kennengelernt wie auch die von dessen Nachfolger Marcel Beck (1908 – 1986) wieder aufgenommene kritische Sicht der Schweizer Geschichte. Dazu gehörte die abermalige Demontage von Geschichtslegenden um Tell und St.Gotthard, wie sie später von Becks Schülern Otto Marchi (1942 – 2004) und Roger Sablonier (1941 – 2010)in der Tradition von Josef Eutych Kopp von Beromünster (1793 – 1866) bis zum neuesten Stand weitergeführt wurde. Dabei war indes Wenger jederzeit in der Lage, die politische Geschichte aus der Perspektive der Geistesgeschichte auf eine Weise einzuordnen, für die ein Begriff wie „Demontage“ höchst unvollkommen bleibt.

Als Lehrer für Didaktik der Geschichte an der Universität Zürich stand Pierre Wenger klar auf der Seite der kritischen Geschichtsschreibung. Trotzdem war er niemandes Anhänger. Als einer der besten Lehrer seiner Generation war er eine Grösse für sich. Chauvinismus war ihm nicht nur fremd, sondern nachgerade widerwärtig. Auch als Didaktiker der Geschichte verstand er sein Fach unbeschadet seines militärischen Grades als Oberst nie als Beitrag zur geistigen Landesverteidigung.  

Die 1950 gedruckte Doktorarbeit von Pierre Wenger trägt den Titel „Die Grundzüge der Geschichtsschreibung von Erich Marcks“, erschienen als Band 8 der Zürcher Beiträge zur Geschichtswissenschaft aus der Schule von Leonhard von Muralt (1900 – 1970), der nebst verehrungsvollen Studien zu Zwingli und Bullinger zeitlebens ein Bewunderer des Staatsmannes Bismarck geblieben war. Das Werk von Marcks kulminierte in einer zur Zeit des 1.Weltkrieges erschienen zweibändigen Bismarck-Biographie, welche den Reichskanzler als Vollender deutschen Geschichte pries. Wengers Arbeit huldigt keinen deutschnationalen Tönen. Im Vordergrund steht die Kunst der Geschichtsschreibung der Historiker aus der Tradition Rankes und der Generation der Treitschke, Meinecke, Troeltsch und Mommsen einschliesslich der zu dieser Zeit feststellbaren Tendenzwende. Die deutsche Geschichtsschreibung entwickelte sich von Liberalismus und Monarchismus zunehmend in Richtung Nationalliberalismus und endlich zur deutschpatriotischen nationalistischen Geschichtsschreibung. Als eine der lesenswertesten Publikationen Wengers ist die Studie „Die Anfänge der Subjektivität in der bildenden Kunst Italiens vom 13. bis zum 15. Jahrhundert“ zu würdigen, in einem bei de Gruyter 1998 erschienenen zweibändigen Sammelwerk, einem Standardwerk zur Vorgeschichte und Geschichte der Subjektivität. Diese Thematik bildet jenseits von Gender-Ideologie ein Grundprogramm für die Geschichtsschreibung des 21. Jahrhunderts. Einmalig für die Geschichte des Empfindens ist zum Beispiel die Darstellung des „Christo morto“ bei Mantegna.

Mit dieser späten Publikation, qualitativ seiner Dissertation überlegen, hat Pierre Wenger ein Lebensthema des bedeutendsten Kulturhistorikers der Schweiz wieder aufgenommen, nämlich Jacob Burckhardt (1818 – 1897). Die Geburt des modernen Lebensgefühls im spätmittelalterlichen Italien ist wohl ein Hauptschlüssel für das Verständnis dessen, was man jenseits blosser Ideologien europäisches Bewusstsein nennen könnte. Dass dann Wenger nach seinem dreijährigen Aufenthalt in Ostasien ebenfalls kompetent über das Nô-Theater in Japan publizierte, nach seiner Pensionierung an der vorzüglichen Zürcher Volkshochschule über Japanische Kulturgeschichte las, war ein gelebter Beitrag zu einer globalisierten, aber keineswegs nivellierenden Geschichtsbetrachtung.

Wie weit entfernt Pierre Wenger als Allgemeinhistoriker, Kenner der Schweizergeschichte, vorzüglicher Geschichtsdidaktiker und Kulturhistoriker vom berüchtigten Elfenbeinernen Turm der Gelehrtenrepublik entfernt blieb, bewies er mit seiner Berufsauffassung als Gymnasiallehrer für Geschichte. Nach Lehrtätigkeiten am Real- und Oberschullehrerseminar, einer hohen Schule verständlicher Didaktik, unterrichtete er von 1959 bis 1974  – danach die drei Jahre als Militärattaché in Ostasien – und von 1974 bis zu seiner Pensionierung 1986 am Zürcher Gymnasium Freudenberg, zu dessen hervorragendem Renommee er massgeblich beitrug. Als Repräsentant der Gründergeneration hat er, wie von der Schulleitung hervorgehoben wird, markante Spuren hinterlassen.

Am nachhaltigsten wirkte Pierre Wenger in einem Fachbereich, den die Gelehrten des sogenannten Elfenbeinernen Turms den Schülerinnen und Schülern oftmals nur schlecht und recht nahezubringen vermögen: Staatskunde als historisch fundierte Politikwissenschaft. „Die von ihm (Pierre Wenger, P.M.) konzipierten Staatsbürgerlichen Projektwochen sind noch heute fester Bestandteil des Schullebens“, schrieb Rektor Dr. Niklaus Schatzmann in der Todesanzeige der Kantonsschule Freudenberg in der Neuen Zürcher Zeitung vom 6. Juli 2013. Didaktische Errungenschaften sind, wenn es möglich ist, als gelebte Schulqualität, wie ein zeitgenössisches Schlagwort lautet, zu institutionalisieren.

Was die Emeritierung eines Schulpioniers um die dreissig Jahre überdauert, wird mit Recht als langfristiger Lehrerfolg eingeschätzt. Als Lehrer der Staatskunde konnte Pierre Wenger auf Kontakte mit Bundesräten, ausländischen Ministern und Diplomaten aller Stufen zurückblicken. Dazu war er als Militärattaché, in Wahrnehmung unmittelbarer Verantwortung, an der Demarkationslinie zwischen Nordkorea und Südkorea gestanden. Hier wurde nämlich der Schweiz als neutralem Staat und Nichtmitglied der Uno eine markante Vermittlungsaufgabe von weltpolitischem Gewicht zugewiesen. Der Kalte Krieg bekam bei einem solchen Lehrer als Gegenstand politischer Schulung eine unvergleichliche Qualität der Anschaulichkeit. Das Wiederkäuen trockener Lehrmittel, fotokopierte Arbeitsblätter – oder wie heute – mehr oder weniger gute Lehrprogramme zum „Downloaden“ sind das eine. Erfahrung und Erzähltalent, eine Meisterschaft Wengers, das andere.

Pierre Wenger verfügte über Eigenschaften, wie sie der einstige Zürcher Kantonsschüler und spätere Nobelpreisträger Elias Canetti (1905 – 1994) bei seinen besten Lehrern, die ohne technische Hilfsmittel unterrichteten, als deren didaktische Qualität zu rühmen wusste. Canetti hat in seinem berühmten autobiographischen Buch „Die gerettete Zunge“ neben mancherlei Hommagen auch Schrullen, Ungerechtigkeiten und psychopathische Eigenschaften von Zürcher Gymnasiallehrern hinreichend geschildert. In einem persönlichen Schreiben aus dem Jahre 1985 gestand er mir gegenüber jedoch ein: „Sie können sich nicht vorstellen, was ich guten Lehrern verdanke.“ Als der Nobelpreisträger diesen Satz schrieb, war Pierre Wenger als „Hauptlehrer für Geschichte“, wie damals an einem Deutschschweizer Gymnasium das Anstellungsverhältnis eines Studienrates bezeichnet wurde, noch am Unterrichten. Wenger hatte einige der ehemaligen Lehrer von Canetti noch gekannt.

Das oben zitierte positive Endurteil dürfte von den meisten seiner Schüler mitunterschrieben werden, die sich bei Pierre Wenger in der Didaktik des Geschichtsunterrichts schulen liessen.

Wie Jacob Burckhardt unterrichtete Wenger, wiewohl nie als Ordinarius, gleichzeitig an der Mittelschule und an Zürichs beiden Hochschulen. Aber anders als seinerzeit der Basler Gelehrte, dessen Bild die Tausendfrankennote der Schweizer Nationalbank ziert, konnte Wenger über die Kultur der Renaissance in Italien hinaus noch auf eine neuere Kulturform zählen. Mit zu seiner Geschichtsdidaktik gehörte der historische Film. Mit dem grossen alten Mann des Schweizer Films, Lazar Wechsler (1896 – 1981), stand Wenger in einem Vertrauensverhältnis.

„Morgarten kann nicht stattinden“, lautete 1940 ein berühmtes Diktum des einstigen ostjüdischen Immigranten Wechsler. Für ein monumentales filmisches Schlachtgemälde der Ereignisse von 1315 war nämlich das Geld schlicht nicht vorhanden. Der letzte Film, den Wechsler noch drehen lassen wollte, wäre, 30 Jahre nach „Landammann Stauffacher“, ebenfalls der Schweizer Geschichte gewidmet gewesen.

Wie vermutlich bei früheren Gelegenheiten wurde Prof. Wenger um historischen Rat angegangen. Die vielfältigen Verpflichtungen am Gymnasium und an der Hochschule erlaubte ihm jedoch die Mitarbeit nicht, weswegen der Auftrag mit besten Empfehlungen an einen Studenten der Didaktik weitergegeben wurde. Auf diese Weise gelangte der Verfasser dieses Nachrufs zur Bekanntschaft mit dem unvergleichlichen Patriarchen Lazar Wechsler sowie weiterer Prominenz aus der europäischen Filmszene, so dem Ungarn Istvan Bekefy und, als Dialog-Autor, Hansjörg Schneider, damals der Dramatiker der Stunde und bereits einer der besten Schweizer Autoren. Das recht weit gediehene Projekt eines Films um den Untergang der Alten Eidgenossenschaft 1798, mit Gotthelfs „Elsi die seltsame Magd“ als Basis-Geschichte, scheiterte wegen dem plötzlichen Tod von Lazar Wechslers Ehefrau und auch wegen dessen sich rapid verschlimmernder Parkinson-Krankheit.

Im Vergleich zu dieser Episode war meine Prüfungslektion zum Erwerb des Diploms für das Höhere Lehramt des Kantons Zürich, das Eintrittsbillett für meine spätere Lehrtätigkeit an Schweizer Gymnasien, zwar ein erfolgreicher Abschluss, jedoch klar weniger denkwürdig. Meine Lektion vor einer Klasse der Unterstufe über “Sokrates Bedeutung für die Geschichte Athens“ verfügte dank einiger Anekdoten zwar über Unterhaltungswert, hob aber den politischen Mut des Philosophen zur Zeit des Peloponnesischen Krieges nicht ausreichend hervor. Diese Kritik war unbedingt einzustecken. Eine bleibende Mahnung, die Unentbehrlichkeit des Mutes, bei Platon „Tapferkeit“ genannt,  in Geschichte und Politik nicht gering zu achten. Die Note „gut“ war weniger für mich als für einen Lehrer, der nicht nur Ansprüche stellte, sondern bedeutende Hoffnungen in einen setzte, ein bisschen enttäuschend. Eine solche Lektion sollte man nie vergessen.

Zur Kritik an der Unterbetonung des Mutes in der Geschichte scheint passend, dass sich Pierre Wenger mehr als ein Vierteljahrhundert nach dieser Lektion bei mir nach einem Buch Reinhold Schneiders über den Indianerbefreier Bartolomé de Las Casas erkundigte. Es handelte sich um den ehemaligen Bischof von Chiapa, Mexiko, wo noch im 21. Jahrhundert Unruhen von Indios auszumachen waren. Dieser telefonische Kontakt war der letzte, an den ich mich erinnere.

Pierre Wenger, ein väterlicher Lehrer und als Historiker mit globalem Horizont und in der Fähigkeit politischer Einschätzungen wohl keinem damaligen Politologen unteregen, fand als feiner Mensch auch privat sein Glück. Seit 1969 war er mit Ursula Wissler verheiratet. In Oberwil-Lieli, sozusagen am Weg des Reformators Heinrich Bullinger von Bremgarten nach Zürich, fand der Gelehrte sein trautes Heim. Zürich blieb ihm geistig näher als das aargauische Freiamt. Die Abschiedsfeier fand seinerzeit am Mittwoch, 10. Juli statt, also an der legendären Hinrichtungsstätte von Felix und Regula, wo noch bis zur Reformationszeit eine Art Heilwasser therapeutischen Bedürfnissen diente.

Dort sei einst ein milchiges, leicht nach Schwefel riechendes Wasser hervorgequollen, welches man in Fässern sammelte, dann in einen Steinbrunnen, den „Heiligen Brunnen“, fasste. Dieser „Gesundbrunnen“ wurde während der Reformation, analog zur Zerstörung der Orgeln und Heiligenbilder, zugeschüttet. Die Ausstrahlung Zürichs, wie sie von den Reformatoren Zwingli und Bullinger ausging, erfolgte fortan durch das Wort, und wie mit Blick auf den Verstorbenen hervorgehoben werden darf, durch die Einheit des Wortes und des Beispiels.

 
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